31. Juli 2018
Magazin

THEMA: Die Tücken der Tradition

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TIMS THESEN 

THEMA: Die Tücken der Tradition

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse  
Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse  
Seit 1912. Since 1799. Fondée 1688. Historie, Tradition, Beständigkeit – das sind Attribute, mit denen sich mancher Einzelhändler gerne schmückt. Geschäftsinhaber und Ladenbesitzer, die ab Mitte der 90er Jahre angefangen haben, geraten langsam in Versuchung, derlei Zierrat über der Eingangstür anzubringen. Das aber – und das ist die These für August – bringt häufig mehr Schaden als Nutzen.

Grund eins: Kein klar denkender Mensch interessiert sich für die Leistungen vergangener Generationen, wenn er eine Hose kauft, ein Schnitzel, eine Waschmaschine oder ein Tweed-Sakko. Selbst bei einer Bank hat ein weit zurückliegendes Gründungsdatum keine praktische Relevanz mehr. Denken Sie an die Barings Bank (1806), an Lehman Brothers (1850) oder Merrill Lynch (1914) – alle Pleite gegangen wie eine Nebenstraßen-Videothek.

Gerade eine jüngere Klientel denkt bei „Seit 1903“ nicht mehr unbedingt an das heroische Überflügeln von Zeitläufen, sondern eher: „Bringen die es noch?“

Zweitens: Das Hochhalten von Vergangenheit kann bei Inhaber und Belegschaft eine eigenwillige Leitlinie erzeugen. Sie lautet ungefähr so: „Ist noch immer gutgegangen!“ Man hat es verstanden, Dekaden und Deziennen zu überdauern, und schließt nun von der Vergangenheit auf die Zukunft.

„Warum?

Auch an der Börse beobachtet man derlei täglich. Die Leute schauen auf Unternehmenszahlen aus der Vergangenheit und erwarten diese Zahlen dann in der Zukunft. Warum? Tja, nun, weil es so schön wäre, so genehm, so passend, so günstig. Mit anderen Worten: weil sie es sich wünschen.

Richtig gefährlich wird es, wenn ein Einzelhändler die eigene Existenz aufgrund der Geschäftshistorie als Selbstverständlichkeit sieht und die Kundschaft als unveränderliches Anlagevermögen. Man erkennt sie an Boni allein für Neukunden. Ich kenne Einzelhändler, bei denen ich über die letzten Dekaden Tausende gelassen habe. Glauben Sie, die kommen auf die Idee, beim Weihnachtseinkauf auch nur auf zehn Cent abzurunden? Nein, nein, nein, nein, da könnte der Dalai Lama in Person kommen – kaufmännisches Denken bis in die letzte Kommastelle hinein.

Wenn dann aber eines Tages die Online-Konkurrenz die gleiche Ware um die Hälfte billiger anbietet, dann wird derselbe Kaufmann zum Botschafter in Sachen lokaler Nächstenliebe. Es gehe ja nicht allein ums Geld, sondern ums Gemeinwesen! Das glaubt dann aber niemand und schon wieder geht ein Traditionsgeschäft baden. „Warum?“, fragen dann Passanten, „warum nur?“

Nun, warum nicht? Sie sehen ja auch keinen Brontosaurus auf der Bahnhofstraße spazieren.

Erfreulich ist allerdings, dass es genug Gegenbeispiele gibt, also alteingesessene Geschäfte, die sich exzellent behaupten, neue Ideen haben, Risiken eingehen und heute gleichermaßen etabliert und leistungsstark wirken. Uns fällt es nicht leicht, sie zu benennen, weil diese Geschäfte nicht ständig auf ihrem Gründungsdatum herumreiten. Aber wir kaufen bei denen und darum geht’s. 

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