1. Juni 2015
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Eine Stadt muss helfen 


GESELLSCHAFT 

Eine Stadt muss helfen 

Flüchtlinge in Hamburg 

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Flüchtlinge bei Ponçarë, Albanien, nahe der Grenze zu Griechenland (FOTO: AD VAN DEREN)

Die Zahl der Flüchtlinge steigt dramatisch – auch in Hamburg. Wohnheime müssen errichtet und erweitert, soziale Belange berücksichtigt werden. Parallel hierzu wächst der Widerstand in Teilen der Bevölkerung. Nach einer Ermahnung der Vereinten Nationen an Deutschland, wird es auch in den Elbvororten Zeit nachzudenken über Toleranz, Rassismus im Alltag und Strategien für die nächsten Jahre.

Das Thema kann Hysterie erzeugen – beschränken wir uns daher zunächst auf Zahlen. Unstrittige Zahlen.

Sprechen wir in Hamburg über Flüchtlinge, dann geht es um 6.000 bis 7.000 Menschen pro Jahr, die vornehmlich aus Syrien kommen, aus der Balkanregion, Somalia, Russland und dem Irak. 2009 waren es nur 1.378 Menschen, was die enormen Steigerungsraten verdeutlicht. Hamburg nimmt pro Jahr 2,5 Prozent aller Menschen auf, die in ganz Deutschland als Asylsuchende gemeldet werden. Bleibt die Lage in den Herkunftsländern der Flüchtlinge desolat – und nichts deutet auf das Gegenteil hin –, dann erwächst hieraus eine Verantwortung für eine weit größere Zahl von Menschen.

Dementsprechend muss die Stadt reagieren. Im Bezirk Altona existieren derzeit Plätze für 2.960 Menschen. Die größten Standorte sind Sieversstücken in Sülldorf mit 300 Plätzen sowie die Wohnanlagen August-Kirch-Straße (288 Plätze), Kroonhorst (267) und Sibeliusstraße (232). Insgesamt acht Standorte beziehungsweise Erweiterungen bestehender Einrichtungen sind im Bezirk unmittelbar geplant. So wird die Wohnanlage Sieversstücken II noch 2015 weitere 288 Plätze für Flüchtlinge bieten.

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Nader Mosseni, ein Flüchtling aus Afghanistan, der mehrere Jahre in der Einrichtung Sieversstücken in Sülldorf lebte.
Die Kosten pro Flüchtling und Jahr liegen laut eines Berichts der Hamburger Bürgerschaft bei 19.422 Euro. Bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen sind es 63.867 Euro.

Es bleibt eine heikle Frage, wie Hamburger auf Flüchtlingsströme reagieren.

In der Summe hat die Stadt Hamburg 2014 insgesamt rund 299 Millionen Euro für Flüchtlinge ausgegeben. Das entspricht etwa 0,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Stadt.

Diese letzte Relation könnte ängstliche Gemüter beruhigen, sie wird aber selten veröffentlicht, hier und da vielleicht auch ungern zur Kenntnis genommen. Es bleibt daher eine heikle Frage, wie die Hamburger reagieren auf Flüchtlingsströme in der Größenordnung ganzer Stadtteile.

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Flüchtlingsaufkommen in Hamburg
Einige Anzeichen sind positiv. Da ist zunächst PEGIDA Hamburg. Diplomatisch formuliert handelt es sich um einen armseliger Haufen Angstbürger, die nicht ansatzweise im Stande sind, die widerwärtigen Aufmärsch ostdeutscher Städte zu kopieren.

Weiterhin gibt es in Hamburg bürgerliches Engagement. Hierzu gehört der Runde Tisch Blankenese, geleitet unter anderem von Helga Rodenbeck und Pastor Klaus- Geog Poehls. Der Kreis besteht aus etwa 30 Ehrenamtlichen, die schon seit 1992 in der Flüchtlingsunterkunft Sieversstücken tätig sind. Praktisch tätig: Winterkleidung wird ebenso gesammelt wie Geld für Traumatherapien. Die Ehrenamtlichen beraten Flüchtlinge, sorgen für Deutschkurse, suchen Wohnungen, sammeln Spenden, besorgen Rechtsanwälte etc.

Die Bevölkerung im Hamburger Westen scheint die Flüchtlingsunterkunft Sieversstücken dabei zu akzeptieren, zumindest ist Gegenteiliges derzeit nicht bekannt. Besuchern fällt jedoch auf: Die Anlage wurde derartig abgelegen in die Sülldorfer Feldmark platziert, dass man schon ein gehöriges Maß fremdenfeindlicher Energie benötigt um eine Gefährdung zu sehen. Zwischen Flüchtlingen und den Bewohnern der Elbvororte gibt es aufgrund der Lage keinen alltäglichen Kontakt. Man begegnet sich als Passanten mit verschiedenen Zielen in zwei oder drei Buslinien, ohne Kommunikation.

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Helga Rodenbeck vom Runden Tisch Blankenese
Im Ergebnis können Rissen, Sülldorf und auch Blankenese (hier lebten jahrelang Flüchtlinge im Gosslerhaus sowie im Björnsonweg) das Vorurteil enkräften, reiche Viertel sträubten sich grundsätzlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

Dementsprechend verfügt der gesamte Bezirk Altona mit derzeit 2.960 Plätzen für Flüchtlinge auch über ein höheres Kontingent als der, von der Einwohnerzahl vergleichbare Bezirk Eimsbüttel, der 1.440 Plätze vorhält. Der Vorsprung dürfte jedoch auch stark der unterschiedlichen Bebauungsdichte geschuldet sein. Eimsbüttel kennt keine Feldmarken.

Widerstände gegen den Ausbau der Unterkunft Sieversstücken sind aufgrund der geschilderten Verhältnisse nicht zu erwarten. Die Kapazitätsgrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist in den Elbvororten offenbar noch lange nicht erreicht.

Bleibt nun die Frage, wie die Stimmung in jenen Stadtteilen ausfällt, die nicht über derartige Freiflächen verfügen, in denen Flüchtlinge zu Nachbarn werden.

Die Antwort: gespalten. Überregional bekannt geworden ist der Fall des ehemaligen

Kreiswehrersatzamts an der Sophienterrasse. Hier sollte bereits 2014 eine Flüchtlingsunterkunft mit bis zu 220 Plätzen eingerichtet werden – in direkter Nachbarschaft zu Luxusimmobilien. Einwohner des Viertels erwirkten einen Baustopp und befinden sich seither im Streit mit den ebenso zahlreichen Befürwortern.

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Gemüseausgabe in der Flüchtlingsunterkunft Sieversstücken
Die Sophienterrasse ist dabei nur ein Beispiel von vielen. In einer Stadt, in der Einwohner gerichtlich schon gegen Kitas vorgehen, ist die räumlich enge Koexistenz mit Flüchtlingen ein frommer, vielleicht auch einfach ein naiver Wunsch.

Hinzu kommt ein Phänomen, mit dem Hamburg selten assoziiert wird: Rassismus im Alltag, ohne Scham, ohne Zurückhaltung. Die Zahl der gemeldeten Fälle nimmt seit 2012 zu, dies bestätigen die Mitarbeiter der Antidiskriminierungsberatungsstelle „Amira“. So berichten farbige Taxifahrer über sich häufende Pöbeleien und Übergriffe von Fahrgästen; muslimische Hamburger sind laut eines Berichts des „Hamburger Abendblatt“ vom 19. Mai schon froh „wenn sie unbehelligt durch den Tag kommen“.

Überregional verstören Berichte über die albtraumartige Misshandlung von Flüchtlingen durch Bundespolizisten, keineswegs nur in den einschlägig bekannten Bundesländern. Weiterhin versuchen die Boulevardmedien auch in Hamburg immer wieder, die Stimmung aufzuheizen, wie die jüngste Debatte über Intensivtäter unter minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zeigte. Die in der Gesamtbetrachtung verschwindenden Fallzahlen, standen in keinem Verhältnis zur „Berichterstattung“.

Festzuhalten bleibt hier: Natürlich ist nicht jeder Flüchtling eine Bereicherung für die Hamburger Gesellschaft.

Es ist naiv anzunehmen, dass sich unter 1.000 Flüchtlingen auch nur ein Drogenhändler weniger befindet als unter 1.000 Deutschen. So sind vereinzelt auch Bewohner der Unterkunft Sieversstücken im Amtsgericht Blankenese aktenkundig geworden – alles andere wäre erstaunlich gewesen.

Die Aufnahme von Flüchtlingen in der aktuellen Größenordnung dürfte daher nur dann funktioneren, wenn wir nicht vergessen, dass es sich um Menschen handelt.

Die Hamburger sollten einen kühlen Kopf bewahren, denn es klingt glaubhaft, was Menschen wie Nader Mosseni sagen: „Wenn die Verhältnisse in den Heimatländern desolat bleiben, dann wollen die Menschen nicht nach Europa – Sie müssen.“

Autor: tim.holzhaeuser(at)kloenschnack.de

www.blankenese.de/runder-tisch

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