1. Juni 2017
Magazin

Rosige Zeiten und ein dickes Ende in Sicht

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Rosige Zeiten und ein dickes Ende in Sicht 

Deutschland verdrängt im siebten Jahr des Aufschwungs die Herausforderungen beharrlich, die auf das Land zukommen – eine Bestandsaufnahme | Von Ursula Weidenfeld 

Wie gewonnen, so zerronnen: Jeden zweiten Euro seines Einkommens muss ein Durchschnittsverdiener abliefern, um damit seine Steuern und die Beiträge zur Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zu entrichten. Mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung besitzt deshalb kein Vermögen und kann keine Ersparnisse zurücklegen. Das Einkommen wird allmonatlich verbraucht. Die Folge: keine Rücklagen für das eigene Alter, keine Möglichkeit, in die Ausbildung eines Kindes zu investieren. FOTOLIA/TOMSICKOVA; FOTOLIA/BLENDE11.PHOTO
Wie gewonnen, so zerronnen: Jeden zweiten Euro seines Einkommens muss ein Durchschnittsverdiener abliefern, um damit seine Steuern und die Beiträge zur Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zu entrichten. Mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung besitzt deshalb kein Vermögen und kann keine Ersparnisse zurücklegen. Das Einkommen wird allmonatlich verbraucht. Die Folge: keine Rücklagen für das eigene Alter, keine Möglichkeit, in die Ausbildung eines Kindes zu investieren. FOTOLIA/TOMSICKOVA; FOTOLIA/BLENDE11.PHOTO
Rosiger waren die Zeiten lange nicht. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland bleibt mit 1,3 Prozent Zuwachs auf Jahresbasis wahrscheinlich robust, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Die Staatsverschuldung sinkt – nicht nur proportional zum wachsenden Bruttoinlandsprodukt (BIP), sondern auch in absoluten Zahlen dank Schuldenbremse, Haushaltsüberschuss und zurückgehender Zinslasten. Die Sozialversicherungen sind dank der guten Beschäftigungslage superstabil, die deutsche Wirtschaft verkauft ihre Waren und Dienstleistungen problemlos in alle Welt.

Besser könnte also die Bilanz einer Bundesregierung nicht aussehen, die sich im September 2017 um die Wiederwahl bewirbt. Dennoch mehren sich die Zeichen dafür, dass Deutschland im siebten Jahr des Aufschwungs die Herausforderungen beharrlich verdrängt, die auf das Land zukommen. Demografie und Digitalisierung müssen bewältigt, die Niedrigszinsphase und der schwache Euro auch im Land des größten Profiteurs der Notenbankpolitik verdaut werden. Dennoch machen die Bundesbürger derzeit wieder die Erfahrung: Gerade in guten Zeiten lassen sich Reformen nicht durchsetzen, so nötig sie auch sein mögen.

Die private Altersvorsorge wirft keine Rendite mehr ab. Wenn die Generation Babyboomer in wenigen Jahren in Rente gehen will, wird sie sich vor die Wahl gestellt sehen: mit viel weniger Geld auskommen – oder viel länger arbeiten. Die Alternative, eine geduldige junge Generation, die steigende Rentenversicherungsbeiträge ohne Murren akzeptiert, dürfte ausfallen. Die Weichen für eine Rentenreform oder längere Lebensarbeitszeiten müsste die Bundesregierung stellen – doch sie handelt nicht. Noch sieht ja alles gut aus. Und im Wahljahr will niemand der Erste sein, der „Alarm“ ruft. Mit jedem neuen Jahr der Untätigkeit aber schrumpft auch die Zeit, in der die heute Über-Fünfzigjährigen sich auf die mageren Zeiten vorbereiten können.

Auf der anderen Seite sorgt die Niedrigzinsphase für Höchststände an den Börsen und bei den Immobilienpreisen. Jetzt werden Anleger auf falsche Fährten gelockt. Villen und Wohnungen im gehobenen Standard werden selbst an Orten gebaut, in die am Ende doch niemand will. Selbst Aktien mäßig funktionierender Unternehmen werden gekauft. Dabei wird übersehen, dass in die Wirtschaft selbst, in die Industrie oder in die Gründung neuer und die Expansion bestehender Unternehmen, nicht genügend investiert wird.

Ummantelt vom Boom der Dienstleistungsunternehmen, versteckt hinter den Investitionsankündigungen Brexit-geschädigter Firmen und überdeckt vom demografisch bedingten Personalmangel wandern Industriearbeitsplätze aus Deutschland ab. Je energieintensiver eine Branche arbeitet, desto rascher verschwinden Arbeitsplätze und Produktionsanlagen. Nur 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes investiert Deutschland in neue Maschinen, Anlagen und in die Infrastruktur – der Durchschnitt der anderen Industrieländer liegt bei 21 Prozent. Eine Schieflage ist entstanden, die sich im nächsten Abschwung schonungslos offenbaren wird.

Das alles aber erscheint noch wenig tragisch im Verhältnis zu den Risiken, die immer noch und immer neu von der Gemeinschaftswährung Euro verursacht werden. Für die starke deutsche Wirtschaft sind die Zinsen und der Wechselkurs des Euros zu niedrig. Sie wirken wie Brandbeschleuniger in der ohnehin voll ausgelasteten deutschen Wirtschaft. 2005 exportierte Deutschland Waren und Güter im Wert von 800 Milliarden Euro, 2016 waren es 1200 Milliarden. Allein 2016 summierte sich der Exportüberschuss auf 250 Milliarden Euro. In der Sonne eines Lebens als Exportweltmeister übersehen viele Deutsche, dass sie dem Ausland heute wieder Kredite erteilen, deren Rückzahlung mehr als ungewiss ist. Mit dem wachsenden Schuldenberg der Anderen wächst auch die Gefahr einer neuen Finanzkrise. Wer glaubt, dass die Schuldtitel das unbeschadet überleben, irrt.

Auch dem Staat bekommt der Geldsegen nicht gut. Statt seine Haushaltsüberschüsse entweder an die Steuerzahler zurückzuzahlen, sie in den Ausbau der Infrastruktur zu investieren oder für die Schuldentilgung zu verwenden, hat er sie zum großen Teil ausgegeben – und das nicht einmal besonders effizient. Nach Belgien ist Deutschland das Land mit der höchsten Steuer- und Sozialabgabenbelastung innerhalb der 35 Mitgliedsländer, musste sich die Bundesregierung vor wenigen Tagen von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) vorhalten lassen. Jeden zweiten Euro muss ein Durchschnittsverdiener von seinem Einkommen abliefern, um damit seine Steuern, die Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zu finanzieren. Den besten Sozialstaat liefert Deutschland damit noch lange nicht. Andere Länder – zum Beispiel die skandinavischen Staaten – stellen ein vergleichbares Sozialleistungsniveau zu günstigeren Bedingungen her.

Obwohl nahezu jeder zweite erwirtschaftete Euro umverteilt wird, wird das Land nicht gerechter. Vierzig Prozent der Bevölkerung halten Deutschland trotz seines Daueraufschwungs für ein ungerechtes Land. Das ergab eine Umfrage des Forsa-Instituts im Dezember 2016. Und das ist kein Wunder: Denn obwohl eigentlich die Besserverdiener den größeren Teil der Lasten schultern sollten, zahlen in Wahrheit immer noch die mittleren Verdiener die meisten Steuern und Abgaben. Durch die Beitragsbemessungsgrenze der Sozialversicherungen werden gutverdienende leitende Angestellte relativ bessergestellt als ihre schlechter bezahlten Untergebenen. Auch die pauschale Kapitalertragsteuer begünstigt die Reichen und Vermögenden. Dagegen haben Durchschnittsverdiener kaum eine Chance, Steuern und Sozialabgaben zu vermeiden. So ergibt sich ein merkwürdiges Bild im Wirtschaftswunderland. Mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung besitzt kein Vermögen und hat auch keine Aussicht, Ersparnisse machen zu können.

Diese Menschen haben weder Rücklagen für ihr eigenes Alter, noch können sie in die Ausbildung ihrer Kinder investieren, wenn das nötig wird. Die höchste Steuer- und Abgabenlast schultern die mittleren Verdiener. Sie finanzieren auch die neue Mütterrente und die Leistungen für langjährig Versicherte allein. Jenseits eines Jahreseinkommens von 80 000 Euro sinkt die Belastung deutlich. Tatsächlich zahlen die Reichen genauso viel wie die Armen. Weil sie den größten Teil ihres Einkommens mit einer Flat-Tax versteuern (Kapitalertragsteuer), liegt ihre Durchschnittsbelastung um oder geringfügig über 33 Prozent. Denselben Satz zahlen Geringverdiener in etwa auch – allein durch Mehrwert- und Verbrauchsteuern, Gebühren und andere Belastungen. Weil sie im Gegensatz zu Gutverdienern ihr gesamtes Einkommen allmonatlich verbrauchen, wandert ein beträchtlicher Teil davon sofort weiter an den Staat. Immerhin: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat versprochen, die mittleren Verdiener nach der Wahl zu entlasten – wenn nichts dazwischenkommt, was aber bisher nie der Fall war.

In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung den Südländern der Eurozone gern vorgeworfen, sie hätten die ihnen von der Europäischen Zentralbank (EZB) gekaufte Zeit nicht gut genutzt. Am meisten profitiert hat von den Geldgeschenken der EZB allerdings ausgerechnet das wirtschaftlich ohnehin vor Gesundheit strotzende Deutschland – und es hat die fetten Jahre nicht besser genutzt als die Krisenländer. Für beide ist das dicke Ende in Sicht.



Im April 2017 ist das jüngste Buch unserer Autorin Dr. Ursula Weidenfeld im Rowohlt Berlin Verlag erschienen: Regierung ohne Volk – Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert.

Gebundene Ausgabe 19,95 Euro, als E-Book 16,99 Euro.

www.rowohlt.de

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