2. Februar 2017
Magazin

THEMA: Mild und sanft

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TIMS THESEN 

THEMA: Mild und sanft

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Diese Glosse wird sanftmütig, geradezu cremig. Neulich fiel mir in einem Supermarkt auf, dass in Deutschland mittlerweile nahezu alle Produkte zum Verzehr als „mild“ beworben werden, als „besonders mild“, jetzt „noch milder“ etc. Orangensaft ist nicht mehr fruchtig, sondern „besonders sanft“, der Chablis nicht mehr charaktervoll, tief, interessant, vielschichtig, mineralisch, sauer, süß, nein, er ist: „leicht“. Leicht auch der abgepackte Putenschnodder oder die vegane Leberwurst. Mild ist der Joghurt, der Weinbrand, die Verkäuferin. Mild, leicht, sanft. Im Grunde scheint der Verbraucher in Deutschland geschmacksneutralen Nährschlamm zu wünschen. Selbst offensichtlichen Stuss, wie etwa „milden“ Gruyère-Käse oder besonders „milden“ Tzatziki, scheint niemand zu bemerken.

Die Bestätigung kommt auch aus der KLÖNSCHNACK-Küche. Toleriert werden hier nur absolut geruchsneutrale Zubereitungsformen der Mittagsmahlzeit. Der leiseste Anflug von Rohmilchkäse oder etwas so grässlichem wie einer mediterranen Reispfanne gilt als Provokation, der Täter als latent asozial. Fisch ist ebenso geächtet wie Leberwurst und selbst die fade Tiefkühllasagne führt zu kritischen Blicken und demonstrativ geöffneten Fenstern.

In Frankreich und Griechenland begegnet uns derlei nicht, auch nicht in Spanien, Portugal, Dänemark oder Schweden – was Fragen aufwirft. Das Phänomen ist auch nicht auf Lebensmittel beschränkt. Nach meiner Beobachtung will der Deutsche es auch in anderen Bereichen des Lebens mild. Dort heißt es aber nicht mild, sondern „dezent“. Riskieren Sie mal so etwas gewagtes wie ein zitronengelbes Hemd oder eine Einsteckblume im Büro. Da ist was los! Hast du noch was vor?! Wen willst du denn abschleppen?! Gesprächsstoff bis zum Wochenende.

Oder denken wir an Schmuck, an Brillen, Jacken, Uhren. „Dezent“, sagt der Deutsche und wählt den Ehering in Platin, damit er ja nicht zu golden glänzt. Die Brille kommt in Titan, damit der Rahmen ja nicht zu dick gerät; die Jacke ist grau, schwarz oder doch lieber grau, und die Uhr? Junghans, Nomos: Rund, leer, nicht zu groß, nicht zu klein, nicht dick, nicht dünn, nicht zu billig, nicht zu teuer. Ein Mann in Deutschland, der es wagt, einen Stein zu tragen, eine Golduhr und Foie gras mampft, wird zwischen Graf Zahl und Moskau Inkasso eingeordnet.

Warum ist das so? Was ist da passiert?

Meine These: Prüderie. Ein Prickeln auf der Zunge, goldener Glanz, satte Farben, verspielte Technik – all das lässt sich als eine Art von Pornografie betrachten, als Reiz um der reinen Stimulation willen. Dazu natürlich die Frage: Was sollen die Nachbarn denken? „Den Nagel, der heraussteht, den trifft der Hammer“, heißt es in Japan und der Deutsche nickt. Wenn hierzulande etwas ausgewählt wird, das nicht sanft, mild oder dezent ist, dann herrscht Krieg oder Karneval.

Tischlermeister Ulrich Kuntze
Elektrohaus Wille oHG
Bistro Elb Wein
Voss Hamburg

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