2. Mai 2016
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THEMA: Geschmack

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TIMS THESEN 

THEMA: Geschmack

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Eines der beliebtesten Sprichwörter im Deutschen heißt: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten.“ In Zeiten pubertärer Nabelschau fand ich dieses Bonmot klasse, ermöglicht es doch modisches Harakiri. Heute halte ich „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ für eine geradezu bizarre Fehldeutung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Thema intellektuell durchdringe. Vielleicht ist es einfach ein Bauchgefühl und die Beobachtungen des Alltags.

Die beliebteste Oberbekleidung des Deutschen ist, wie wir alle wissen, eine Windjacke in Mülltütenschwarz oder Rentnerbeige, gefertigt zu 100 Prozent aus Plastik. Damit sie schnell und billig in einem Entwicklungsland hergestellt werden kann, kommt sie völlig ohne Form daher. Ein Mülleimer könnte diese Jacke ebenso tragen wie Kim Kardashian – auf zehn Schritte Entfernung werden wir nicht mehr sehen, wer wer ist.

Oder nehmen wir den Supermarkt. Die typische Weinflasche in Deutschland wird im Discounter gekauft und kostet 2,84 Euro. Abzüglich Flasche, Korken, Etikett und Werbung bleibt unter einem Euro für das Produkt. Rein zufällig lässt sich zu diesem Preis aber nur etwas Weinähnliches keltern. Die Schallmauer für echten Genuss liegt bei etwa fünf Euro.

Ein beliebtes Schlachtfeld des Geschmacks sind auch Frisuren. Derzeit in Mode: der man bun. Klingt interessant, ist in der Tat aber nur ein Dutt für Männer. Kein Scherz – die Putzfrauenfrisur der 50er Jahre ist derzeit der heißeste Scheiß bei Männern zwischen 20 und 40. Die aktuelle Mode schreibt dazu Sneaker ohne Socken und über die Knöchel gekrempelte Röhrenjeans vor. Wenn wir diese drei Beobachtungen zusammenführen, dann ergibt sich kein glückliches Bild, wohl aber die Realität: In einem Supermarkt steht ein Mann in einer unförmigen Plastikjacke, mit Dutt und hochgekrempelter Röhrenjeans, die nackten Knöchel präsentierend. Er greift nach einer Flasche „Blanchet“ halbtrocken (zugegeben: 2,99 Euro) und erklärt Ihnen dann: „Über Geschmack kann man nicht streiten!“

Zur These: Ich glaube, wir reden bei dem Sprichwort überhaupt nicht über Geschmack. Gemeint ist vielmehr Entscheidungsfreiheit bis über alle Schmerzgrenzen hinaus. Viele Menschen verwechseln die Möglichkeit zwischen Dingen zu wählen mit einer Geschmacksentscheidung. Das würde aber voraussetzen, dass überhaupt ein Geschmack ausgebildet wurde, dass gewisse Kenntnisse über Kunst, Wein, Mode etc. vorhanden sind.

Der Autor Asfa-Wossen Asserate geht noch weiter. In seinem lehrreichen Buch „Manieren“ erklärt er das Bonmot so: Eine wirklich geschmackvolle Sache sticht so deutlich aus der Masse des Gewöhnlichen heraus, dass es für Streit keinen Anlass geben kann. Der Satz „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ sei ursprünglich eine rein rhetorische Feststellung gewesen. Wer das nicht sieht, ist demnach kein gewinnbringender Diskussionspartner, am allerwenigsten sollte man mit ihm streiten.

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