2. Oktober 2015
Magazin

Wer liest die Klassiker?

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KULTUR 

Wer liest die Klassiker? 

Literatur

Straßen, Häuser und Bibliotheken werden nach ihnen benannt. Ihre Bonmots bleiben geläufig, ihre Anekdoten werden gepflegt. Der Hamburger Westen ehrt seine verstorbenen Literaten. Aber wer liest sie? Tim Holzhäuser hat nachgefragt.

Die Blätter fallen, das Licht nimmt ab. Der Herbst ist Lesezeit. Nach diesem grässlich langweiligen Artikeleinstieg könnte man seufzen: „Centerfold wäre schön!“ Literatur als Aufmacher einer Lokalzeitung, das verspricht Anstrengung. Warum also nicht lieber eine Abiturientin des Christianeums, in Öl und Zucker gewälzt, auf drei Seiten zum Ausklappen?

Weil das nicht weniger wäre als Ignoranz. Immerhin haben die Elbvororte zahlreiche Literaten hervorgebracht oder ihnen eine Heimat geboten. Einige von ihnen haben es zu Weltruhm gebracht. Die Buchhandlungen dekorieren Schaufenster mit Sekundärliteratur über Horst Janssen, man benennt Straßen nach lokalen Poeten und füllt gravitätische Leselisten mit ihren Titeln. Die Namen Detlev von Liliencrohn, Siegfried Lenz, Hans Leip, Richard Dehmel, Hans-Henny Jahnn, Gustav Frenssen und Ernst Barlach sind jedem auch nur dreiviertelgebildeten Elbvorortler geläufig und so lässt sich behaupten: Die Herren leben fort. (Warum finden sich eigentlich keine Literatinnen? Gab’s keine, oder will man sich nicht an sie erinnern?)

Siegfried Lenz gehört zum Inventar der Bücherhalle – ansonsten aber Fehlanzeige

Wir werden also den Gedanken ans Centerfold beiseite schieben und uns aufnahmebereit vor die Bücherwand stellen, die unsere lokalen Literaten über Jahrhunderte vollgeschrieben haben.

Hier gibt es allerdings ein klitzekleines Problem. Wer im Oktober 2015 die Bücherhalle Elbvororte aufsucht – immerhin zuständig für ein halbes Dutzend Stadtteile – und nach den literarischen Größen unserer Heimat sucht, der findet …

Nichts. Schön, Lenz, der gehört zum Inventar, ansonsten aber Fehlanzeige. Die Regale quellen über vor Krimis, Selbsterkenntnis und Seichtem mit Hund …

Auch in den lokalen Buchhandlungen ist die Lage ernst. Rainer Völker, über 30 Jahre lang Inhaber der Buchhandlung Kortes, erinnerte sich einst an diese schöne Jubiläumsausgabe der Werke Hans-Henny Jahnns, die im obersten Regal eine völlig ungestörte Totenruhe genoss.

Heute werden bei Kortes von unseren acht Namen nur noch Lenz und Janssen nachgefragt. Bei allen anderen gehe der Umsatz gegen Null, so Verkäuferin Helle Erichsen. Wichtige Werke von Hans Leip sind nur noch antiquarisch erhältlich (die einzige Neuauflage dieses Autors ist „Jan Himp und die kleine Brise“).

Der Jahnn-Wälzer steht noch immer im Regal, wird von kommenden Generationen wohl als eine Art Versteinerung bewundert werden. Dabei, das betonen die Damen bei Kortes, sei ihre Buchhandlung durch die Lage begünstigt und durch ein Stammpublikum, das sich lebhaft für den Stadteil, seine Kultur und Historie interessiert. Ein Sonderfall also.

Nachfrage in Rissen, Buchhandlung Kötz und Buchenau. Werden die Klassiker hier noch gekauft? „Selten“, heißt es. „Wenn ein Todestag ansteht, dann schon.“

Auch hier steht so gut wie keiner der genannten Autoren im Regal, bis auf Siegfried Lenz natürlich. Auch hier wird auf Kundenwunsch antiquarisch bestellt, aber das kommt laut Verkaufsteam bei Namen wie Jahnn „einmal im Jahr vor“.

Autoren wie Gustav Frenssen, Detlev von Liliencron und Richard Dehmel sind im Handel also wirklich mausetot, die anderen riechen nur etwas streng.

Etwas anders klingt dies in der Buchhandlung Harder in der Othmarschener Waitzstraße. Inhaberin Nikoletta Ehlers muss bei Liliencron, Barlach, Frenssen, Dehmel und Leip ebenfalls passen. Bücher von Lenz, Jannsen und – Überraschung! – Jahnn seien vorrätig und würden ab und zu tatsächlich verkauft. Listen von Antiquariaten gehören aber auch in Othmarschen zu den Bezugsquellen.

Die Beobachtung, nach der sich eher Senioren den Klassikern zuwenden, lässt sich auch unschwer bei Harder machen. Das ist nicht für jeden erfreulich, heißt es doch, dass die Lektüre weiter zurückgeht und die Jungen allenfalls zwangsweise mit alten Texten traktiert werden.

Aber ist das wirklich so? Gibt es an den Schulen noch immer die berüchtigte literarische Druckbetankung?

Helle Erichsen, Verkäuferin in der Buchhandlung Kortes, eine traditionellen Adresse in Blankenese
Helle Erichsen, Verkäuferin in der Buchhandlung Kortes, eine traditionellen Adresse in Blankenese
Nachfrage bei drei Gymnasien im Hamburger Westen. Dr. Stefan Schulze, Schulleiter des Gymnasiums Othmarschen macht es kurz: „Siegfried Lenz wird noch gelesen, die anderen nicht.“

Dr. Kirsten Nicklaus, Schulleiterin im Gymnasium Rissen, stimmt ihm mit Einschränkungen zu.

„Die genannten Autoren spielen eher selten eine Rolle im Deutschunterricht, höchstens, wenn es um den Vergleich verschiedener Erzählungen zu einem thematischen Schwerpunkt geht.“

Andere Hamburger Autoren wie Wolfgang Borchert, Lessing oder auch Klopstock werden in Rissen jedoch nach wie vor gelesen.

Sollten die Klassiker der Elbvororte überhaupt noch gelesen werden?

Ingrid Herzberg, Schulleiterin des Gymnasiums Blankenese schließlich schreibt: „Siegfried Lenz spielt als Romanautor und Verfasser von Kurzgeschichten immer noch eine Rolle. Sein ‚Feuerschiff’ liest bei uns regelmäßig der 9. Jahrgang. (…) Die anderen Autoren werden nicht mehr gelesen – Frenssen und Dehmel wären auch schwer verdauliche Kost!“

Die hier zu Recht angesprochene Verdauung führt uns zu einer völlig neuen Frage, mit der dieser Artikel einen ketzerischen Drall bekommen könnte.

Sollten die Klassiker der Elbvororte überhaupt noch gelesen werden?

Im Falle Frenssen irritiert die Tatsache, dass die Blankeneser Frenssenstraße 1985 in Anne-Frank-Straße umbenannt wurde. Tatsächlich war der ehemalige Pastor, der auf dem Höhepunkt seiner Popularität in den 20er-Jahren sogar als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur galt, ein Rechtsaußen. Im Laufe seines Schaffens vertrat Frenssen so ziemlich jede widerwärtige Position, die ein Mensch einnehmen kann, angefangen von kolonialistischen über rassistische Vorstellungen bis hin zu offenem Antisemitismus. Da an derlei geistigem Unrat auch heute noch kein Mangel herrscht, wäre selbst ein kommentierter Frenssen auf Lehrplänen eine schwer nachvollziehbare Entscheidung. Im Falle Dehmels liegen die Dinge weniger arg. Der Lyriker galt zu Lebzeiten nicht wenigen als wirr, aber harmlos. Ein Künstler, der über seinen Themen Liebe, Sexualität und Natur regelmäßig in Ekstase geriet, dann allerdings, 1914, mit 51 Jahren einem nationalistischen Rappel erlag. (Dehmel zog in den Krieg und versaute sich die Vita mit Propaganda.)

Andrea Hinz-Meyer, Filialleiterin Heymann Blankenese. Hier widmet sich eine ganze Bücherwand dem Lokalen.
Andrea Hinz-Meyer, Filialleiterin Heymann Blankenese. Hier widmet sich eine ganze Bücherwand dem Lokalen.
Heute erscheinen seine Texte denjenigen Lesern, die eher zufällig über ihn stolpern, völlig aus der Zeit gefallen, ohne jeden Bezug zu Richtig und Falsch, nach modernen Vorstellungen.

Bei Liliencron, Barlach (dessen Texte derart in Vergessenheit geraten sind, dass ihn viele heute nur noch als bildenden Künstler sehen) und Jahnn ist der Fall weniger klar. Es wäre ignorant, den Texten Hans Henny Jahnns jede zeitlose Qualität abszusprechen. Andererseits braucht es gute Argumente, will man der breiten Masse einen Autor ans Herz legen, nur weil der zufällig im Hirschpark gewohnt hat.

Die deutsche Literaturtradition hat eine derartige Fülle hervorgebracht, dass wir bei der Auswahl eines Kanons keine Kompromisse eingehen müssen.

Wirklich „überlebt“ haben daher wohl nur Lenz, Leip und Jannssen.

Die erwähnte Lenz-Novelle „Das Feuerschiff“ ist heute noch mit Gewinn und Lust lesbar und weitgehend frei von dem erzählerischen Atemstillstand, den der Autor in anderen Werken kultivierte.

Auch Hans Leips Övelgönne-Porträt „Jan Himp und die kleine Brise“ (1934) überzeugt den Leser noch heute fast mühelos mit einer Idylle fernab des Kitsches.

Der Witz des „kleinen Dostojewski“ (Janssen, über Janssen) ist auch heute noch präsent, wenngleich gut versteckt hinter seinem zeichnerischen Erbe.

Letztlich also tendiert der Elbvorortler zu einer abgeklärten Traditionspflege. Straße benennen, ja – lesen, nur wenn’s sein muss, sinnvoll oder interessant erscheint.

Insgesamt liest der Hamburger Westen jedoch vergleichsweise viel. Die Buchhandlungen sind gut besucht und ein literarisches Leben mit Wettbewerben und Lesungen wird gepflegt.

Welche neuen Klassiker sorgen wohl 2075 für neue Straßennamen?

Autor: tim.holzhaeuser(at)kloenschnack.de

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