1. Dezember 2016
Magazin

Wann wird’s mal wieder richtig Winter?

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JAHRESZEITEN

Wann wird’s mal wieder richtig Winter?

Schnee und Eis satt waren in den letzten Jahren Mangelware

Ältere berichten ihren Nachkommen: Die Eisschollen türmten sich am Elbufer zu gigantischen Haufen, Treibeis schob sich mit den Gezeiten durch das Wasser und Minusgrade ließen Eiszapfen am Bart wachsen.
Ältere berichten ihren Nachkommen: Die Eisschollen türmten sich am Elbufer zu gigantischen Haufen, Treibeis schob sich mit den Gezeiten durch das Wasser und Minusgrade ließen Eiszapfen am Bart wachsen.
Ich möchte im Winter sterben“, erzählte Dieter Bohlen 2008 einem Journalisten des „Stern“. Der hoffe darob auf etwas ungewohnt Elegisches zugunsten der kalten Jahreszeit, aber es kam anders.

„Dann sollen sie meine Asche auf den Bürgersteig streuen“, fuhr Bohlen fort. „Wenn eine Oma dadurch vor dem Ausrutschen bewahrt wird, habe ich zumindest noch ein gutes Werk getan.“

Wir sehen, die Sehnsucht nach einem Bilderbuchwinter ist keine Selbstverständlichkeit; einige beurteilen die Sache rein praktisch. Bohlens Spruch ist aber nur deshalb so witzig, weil große Teile der Deutschen den Winter völlig anders betrachten: Als natürlichen Erlebnispark voll weißer Schönheit. Die Kombination „Winter“ und „Schnee“ ist uns so natürlich wie „HSH Nordbank“ und „Skandal“. Dabei sind regelrechte Schneedecken in unseren Breiten ein seltenes Phänomen. Die Fotos auf diesen Seiten illustrieren das: Wer fotografiert schon Alltägliches, das mit dem Rhythmus der Jahreszeiten unweigerlich kommt? Eben. Fällt nachts Schnee, dann wollen die Kinder ab 6 Uhr morgens raus und beim ersten Kratzgeräusch sausen die Rolläden nach oben.

Die Zahl der Frosttage ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. „Ausreißer“ gab es aber immer wieder.

Winterspaziergang im Hirschpark: kalte Einsamkeit inmitten von Schnee und Eis. FOTO: BEATE ZOELLNER 
Winterspaziergang im Hirschpark: kalte Einsamkeit inmitten von Schnee und Eis. FOTO: BEATE ZOELLNER 
Der Blankeneser Anleger im Winter 1956.
Der Blankeneser Anleger im Winter 1956.

Wer diese Seltenheit bezweifelt, dem sei die Seite www.winterchronik.de empfohlen. Aufgeführt sind hier die Frosttage in ganz Deutschland, von 1950 bis heute. Für die Winter 1951/52 und 1956/57 etwa finden wir dort jeweils nur sechs Tage Kälte. Ähnlich frostarme Winter ziehen sich durch alle Jahrzehnte. Betrachten wir jedes Jahrzehnt einzeln, dann liegt kalt und warm dich an dicht. Kälteperioden von mehr als 30 Tagen Länge sind indessen damals wie heute die Ausnahme.

Der tief verschneite Waseberg ist eine Mutprobe für Autofahrer. FOTO: HANS-WALTER KRÖGER
Der tief verschneite Waseberg ist eine Mutprobe für Autofahrer. FOTO: HANS-WALTER KRÖGER
Wer also die Winter als ungebrochene Abfolge weißer Landschaften in Erinnerung hat, der dürfte derselben Illusion erliegen, nach der die Sommer früher schöner waren. Die spektakulären Erinnerungen überlagern die langweiligen.

Beispiel Kreeks. Ein Trauerthema in Blankenese, weil die besonderen Schlitten mangels Eisdecke kaum noch aus der Garage kommen. Glaubt man den Älteren, dann war das früher anders.

Winter 1956 an der Osdorfer Landstraße, Ecke Sülldorfer Kirchenweg, damals noch zweispurige Ruhe.
Winter 1956 an der Osdorfer Landstraße, Ecke Sülldorfer Kirchenweg, damals noch zweispurige Ruhe.
Packeis auf der Elbe im Winter 1954  
Packeis auf der Elbe im Winter 1954  

Nun ist der Autor dieser Zeilen in Sichtweite von Schinkels Wiese aufgewachsen, dieser legendären Kreek-Abfahrt und muss korrigieren: Ein guter Kreekwinter war immer die Ausnahme. Meist wurde mühselig mit tagelangen Wassergüssen nachgeholfen, bis sich endlich so etwas wie eine Abfahrt gebildet hatte. Genau aus diesem Grund ist die Erinnerung an die rasante Fahrt auch noch so präsent: Für viele war sie ein einmaliges Erlebnis. (Letzteres natürlich auch, weil es schweinegefährlich ist und sich einige Leute übel zugerichtet haben.)

Es gibt übrigens noch ein untrügliches Indiz für einen eher erratischen Hamburger Winter: Die Winterkleidung der Hamburger. Während andernorts die Witterung über Wochen eine Art Pflichtgarderobe diktiert (Mütze, Schal, Handschuhe, Mantel, Stiefel) herrscht an der Elbe sartoriales Chaos. Der Hanseat neigt zu permanenter Übertreibung. Steigt das Thermometer über zehn Grad, ist Sommermode zu bestaunen, sinkt sie unter fünf Grad, sehen wir Moonboots und arktis-taugliche Funktionsjacken. Gibt es dann wirklich einen kalten Winter, verzeichnet der Textilhandel ganze Stampeden frierender Kunden. Dann außergewöhnliche …? Na? Richtig: Ausnahmeerscheinung.

 Schinkels Wiese, Heimat der in den Elbvororten einmaligen Kreek, war die Arena des Blankeneser Wintersports.  
 Schinkels Wiese, Heimat der in den Elbvororten einmaligen Kreek, war die Arena des Blankeneser Wintersports.  
Traditionsreicher Wintersport an der Elbe – mit der Kreek Schinkels Wiese runterbrettern
Traditionsreicher Wintersport an der Elbe – mit der Kreek Schinkels Wiese runterbrettern

Vielleicht ist das aber auch der große Reiz von Schneelandschaften: Wir wissen, dass wir selbst und die uns umgebende Infrastruktur nicht im mindesten für die weiße Pracht gerüstet sind.

Was macht die Hamburger S-Bahn, wenn mehr als drei Schneeflocken zwischen eine Weiche rieseln? Richtig, sie stellt den Betrieb ein. Sind Nebenstraßen weiß, können wir sicher sein, dass die „MOPO“ eine Woche lang ihr Aufmacher-Thema gefunden hat. Wer aufgrund liegengebliebener Bahn und trotz redundanter Presse ins Auto steigt, der steht auf der nächsten Hauptverkehrsstraße und hört im Radio, der Räumdienst sei vom Wintereinbruch „überrascht“ worden. Im Dezember.

Am Schluss noch ein Wort zur Zukunft. „Führt der Klimawandel zu wärmeren, verregneten Wintern?“ – Diese Frage ist nicht selten. Seriöse Institute beantworten sie mittlerweile durchgängig mit Ja. Es ist davon auszugehen, dass unsere Enkel mit nebenstehenden Bildern nicht mehr viel anfangen können. Was uns als Rarität erscheint, wird dann Historie sein. Der Widerstand gegen diese Feststellung ist zweifellos einer der Gründe für die regnerischen Winter der Zukunft.

Lektüretipp: „Auswirkungen des Klimawandels auf Deutschland“, zu beziehen über www.germanwatch.org.

Autor: tim.holzhaeuser(at)kloenschnack.de 

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