2. Mai 2017
Magazin

Wie politische Akteure von treibenden Kräften zu Getriebenen werden

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Wie politische Akteure von treibenden Kräften zu Getriebenen werden

Eine Chronik von der Grenzöffnung im Herbst 2015 bis zum Türkei-Deal – gibt Einblicke in einen befremdlichen Regierungsstil | Von Christian Lindner 

Am 4. September 2015 wurde die Bundespolizei auf Anweisung der Bundeskanzlerin vom Grenzschutz entbunden. Zehntausende Migranten strömten in ein ungeschütztes Land. Als am 13. September 2015 der Grenzschutz wieder in Kraft treten sollte, entschied die Regierung, diese Entscheidung zu vertagen. Nun kamen Hunderttausende, ehe Österreich und die Balkanstaaten die Massenmigration im März 2016 unterbanden. PICTURE ALLIANCE/DPA/ARMIN WEIGEL 
Am 4. September 2015 wurde die Bundespolizei auf Anweisung der Bundeskanzlerin vom Grenzschutz entbunden. Zehntausende Migranten strömten in ein ungeschütztes Land. Als am 13. September 2015 der Grenzschutz wieder in Kraft treten sollte, entschied die Regierung, diese Entscheidung zu vertagen. Nun kamen Hunderttausende, ehe Österreich und die Balkanstaaten die Massenmigration im März 2016 unterbanden. PICTURE ALLIANCE/DPA/ARMIN WEIGEL 
Der Autor Robin Alexander hat minutiös und chronologisch die wesentliche Prägephase der Flüchtlingskrise seit Anfang September 2015 nachgezeichnet. Als der seriöse, kritische Journalist, der er ist, legt er Fakten offen, die er mit journalistischer Sorgfalt zusammengetragen hat und die er beweisen kann. In diesem Buch wird nicht spekuliert, und es werden keine Verschwörungstheorien ausgebreitet. Robin Alexander zeichnet nicht nur ein nüchternes Bild der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik, sondern das eines befremdlichen Regierungsstils.

Drei in dem Buch Die Getriebenen geschilderte Schlüsselszenen haben mich besonders beeindruckt: die Öffnung der Grenze am 4. und 5. September 2015, die regierungsinterne Beratung über eine mögliche Zurückweisung an den Grenzen am 13. September 2015 und schließlich der Türkei-Deal als Schlüsselszene der zweiten Phase der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel.

Die erste Schlüsselszene:
Robin Alexander beschreibt die Situation am 4. und 5. September 2015 zunächst vor dem Hintergrund eines in Deutschland stark ausgeprägten Mitgefühls angesichts der Nachricht von den Toten in einem Lastwagen im Österreich, angesichts der Bilder des toten Jungen am Strand. Er rekonstruiert, wie die Bundeskanzlerin auf einer unsicheren Nachrichten- und Informationslage aktionistisch versuchte, Herrin der Lage zu sein. Er beschreibt die fortwährenden Kontakte zwischen Deutschland und Österreich. Wenn auch im Nachhinein von Angela Merkel und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann der Eindruck erweckt worden ist, sie hätten fast spontan eine humanitäre Entscheidung getroffen, so wird nach Lektüre des Buchs klar: Sie waren Getriebene, standen unter Druck durch immer neue Ankündigungen und Handlungen vonseiten des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der Flüchtlinge in Bussen Richtung Grenze bringen ließ.

Bereits am folgenden Morgen zeigten sich die Auswirkungen der Grenzöffnung – nämlich die Isolierung Deutschlands in Europa über diesen Alleingang. Es hatte zuvor Verhandlungen über eine Quote innerhalb der Europäischen Union (EU) gegeben und damit zu einem echten und nachhaltigen Lösungsbeitrag zur Flüchtlingskrise, Robin Alexander zeichnet sie nach. Aber nach der Entscheidung Deutschlands und Österreichs kamen diese Verabredungen zum Erliegen.

Der Autor wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob wir nicht auch einen Preis zahlen für ein späteres Entgegenkommen europäischer Partner, etwa den Verzicht auf Sanktionen für Spanien, das nach dem EU-Stabilitätspakt zu hohe Schulden aufgenommen hat. Im Ergebnis spaltete die Bundeskanzlerin mit ihrem Kurs die EU, sie schwächte unser Land über diese einzelne Frage hinaus, und sie brachte insbesondere die osteuropäischen Länder auf Dauer gegen sich auf.

Tatsächlich, schreibt Robin Alexander, hat Angela Merkel am 4. September 2015 eine Richtungsentscheidung für die Bundesrepublik Deutschland getroffen, die vielleicht sogar mit Konrad Adenauers Westbindung, der Ostpolitik Willy Brandts oder der entschlossenen Wiedervereinigung unter Helmut Kohl vergleichbar ist: „Die bedingungslose Grenzöffnung wird die soziale und ethnische Struktur der deutschen Bevölkerung nachhaltig verändern, sie wird das Parteiensystem der Bundesrepublik revolutionieren, das Land in Europa zeitweise isolieren und zu dramatischen politischen Verwerfungen in den Nachbarstaaten beitragen. Merkel hat Gründe, so zu handeln, wie sie handelt. Aber keine Bundestagsdebatte, kein Kabinettsbeschluss, kein Parteitag, kein Wahlsieg hat legitimiert, was am 4. September seinen Anfang nimmt. Merkel bespricht sich noch nicht einmal mit beiden Koalitionspartnern, ihre wichtigsten Mitarbeiter und Minister sind krank oder im Ausland.“

Nachdem die Regierung die Grenze geöffnet hatte, ließ sie die unteren staatlichen Ebenen im Folgenden mit dem Management völlig allein. Es war kein planvolles Handeln, sondern es war eine Affekthandlung unter dem Druck der Ereignisse. Und deshalb legt dieses Buch eben auch den Stil offen, wie regiert wird.

Die zweite Schlüsselszene, die Robin Alexander schildert, ist die Entscheidung zur Zurückweisung an den Grenzen beziehungsweise die Nichtentscheidung am 13. September 2015. Was er hier nachzeichnet, übersteigt die schlimmsten Befürchtungen über die regierungsinterne Entscheidungspraxis. Es war ja der Druck auf die Bundesregierung gestiegen, eine Korrektur nach der planlosen Grenzöffnung vorzunehmen, insbesondere innerhalb der Union. Man bemühte sich um eine gesichtswahrende Lösung. Die Ausnahme sollte beendet werden.

Hier ist nachzulesen, wie es innerhalb der Regierung die Absicht gab, die Grenze zu schließen und auch Menschen, die ein Asylgesuch stellen, an der Grenze zurückzuweisen – es fand sich bloß niemand, der die Schranke herunterließ: „Aus der Ausnahme der Grenzöffnung wird ein monatelanger Ausnahmezustand, weil keiner die politische Kraft aufbringt, die Ausnahme, die geplante, zu beenden. Die Grenze bleibt offen – nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich am entscheidenden Tag schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will. Die angebliche Alternativlosigkeit ist nichts anderes als Mutlosigkeit. Eine Rückkehr zur Ordnung wäre möglich und geboten gewesen. Es gab aber kein klares Signal, weil die Regierung sich von Stimmungen und Umfragen treiben lässt.“

Auch jetzt, anderthalb Jahre nach den Entscheidungen des September 2015, fehlt uns noch immer eine durchgreifende Rechtsgrundlage, um Ordnung in der Zuwanderungsfrage zu schaffen. Insbesondere für den Fall eines Massenzustroms gibt es nach wie vor kein gesichertes Recht. Es fehlt bis heute die Rechtsgrundlage eines Einwanderungsgesetzes, das klar differenziert zwischen Flüchtlingen, die auf Zeit humanitäre Hilfe erhalten, danach aber in die alte Heimat zurückkehren, und denjenigen, die sich um dauerhaften Aufenthalt bewerben können.

Schlüsselszene Nummer drei: der Türkei-Deal, und wie er zustande kam. Robin Alexander zeichnet nach, wie sich das politische Narrativ der Bundeskanzlerin mehrfach der jeweiligen Situation angepasst und verändert hat. Auf den humanitären Imperativ zu Beginn und das „dann ist dies nicht mein Land“ folgte die vermeintliche Alternativlosigkeit, die besagte, Grenzen könne man heutzutage ohnehin nicht mehr schließen. Dann argumentierte Merkel strategisch: Deutschland müsse zunächst alle Flüchtlinge alleine aufnehmen, um der trägen EU die nötige Zeit zu verschaffen, zu einer gemeinsamen Lösung zu finden. Dabei kämpfte sie in Brüssel im Kern schon gar nicht mehr um offene oder geschlossene Grenzen, sondern darum, eben dieses politische Narrativ aufrechtzuerhalten.

Wie abhängig wir von der Türkei geworden sind, haben wir nicht erst jüngst, das haben wir beispielsweise auch schon durch den Satire-Fall Böhmermann bemerkt. „Unterwerfung“ ist denn auch das Kapitel des Buches, das sich mit dem Türkei-Deal befasst, überschrieben. Bis heute sind die wesentlichen Konsequenzen aus dieser Abhängigkeit nicht gezogen worden. Nach wie vor fehlt uns ein effektiver europäischer Grenzschutz.

Ich habe Die Getriebenen mit Spannung und Zustimmung gelesen, weil es eine echte Quelle für die politische Auseinandersetzung ist. Dieses Buch ersetzt im Grunde einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss – und liest sich dabei nicht wie der Bericht eines Untersuchungsausschusses, sondern teilweise wie ein Roman. Wären es nicht stichhaltige Fakten, die Robin Alexander nacherzählt, man könnte manche Szene gar nicht glauben. Porträtiert wird hier ein opportunistischer Regierungsstil der großen Koalition, bei dem niemand Verantwortung übernehmen will, wo es kein langfristiges Denken gibt und Parlament und Öffentlichkeit systematisch über die wahren Hintergründe getroffener Entscheidungen getäuscht wurden. Wer keine Orientierung hat, der muss offensichtlich immer neue Motive für seine Entscheidungen erfinden. Das lernt man aus diesem Buch, im Wahljahr 2017.



Das Buch Die Getriebenen von Robin Alexander, das unser Autor Christian Lindner am 13. März 2017 im Haus der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorstellte und dessen mündlicher Vortrag seinem obigen Beitrag zugrunde liegt, erschien an diesem Tag im Siedler Verlag/Verlagsgruppe Random House.

286 Seiten, gebundene Ausgabe 19,99 Euro, als E-Book 15,99 Euro.

www.randomhouse.de

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