30. Juni 2016
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Wer ratlos ist, kann nicht regieren 

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Wer ratlos ist, kann nicht regieren 

Die Zäsur in Deutschlands Parteienlandschaft geht tief – das politisch-kulturelle Unterfutter entzieht sich den bisherigen, allzu gewohnten Mustern, und die AfD profitiert davon | Von Werner Weidenfeld 

Da etabliert sich eine neue Partei – und die traditionellen Parteien wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Die bisherige Architektur der Machtverteilung stützte sich auf zwei Volksparteien und ein Zünglein an der Waage und prägte über Jahrzehnte die politische Landschaft Deutschlands. Im Bild die Parteioberen Sigmar Gabriel (SPD), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) – ihnen gegenüber bleibt ein neues Stimmungsmilieu, wie es ist: auf Distanz. PICTURE ALLIANCE/DPA/RAINER JENSEN 
Da etabliert sich eine neue Partei – und die traditionellen Parteien wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Die bisherige Architektur der Machtverteilung stützte sich auf zwei Volksparteien und ein Zünglein an der Waage und prägte über Jahrzehnte die politische Landschaft Deutschlands. Im Bild die Parteioberen Sigmar Gabriel (SPD), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) – ihnen gegenüber bleibt ein neues Stimmungsmilieu, wie es ist: auf Distanz. PICTURE ALLIANCE/DPA/RAINER JENSEN 

Eine neue Art von Ratlosigkeit erfasst das Land. Da etabliert sich eine neue Partei – und die traditionellen Parteien wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Die Suche nach einer Antwortstrategie scheint sie geradezu zu verzehren, politisch höchst schmerzhaft. Zunächst galt es, das Phänomen zu negieren. Dann versuchte man, es über den Rand des legal Hinnehmbaren zu schieben. Der Verfassungsschutz sollte aktiv werden gegen solche extremistischen Kräfte. Man wollte sich mit diesen merkwürdigen Parteifunktionären nicht in den Medien zeigen – den Neuen sollte eine solche mediale Aufmerksamkeit nicht zukommen. Und das alles schadete der neuen Partei nicht. Sie bewegte sich im Gegenteil von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.

Das alte Machtkalkül, mit dem man die Architektur des Parteiensystems bisher vor jeder Wahl antizipieren konnte, ist ausgehebelt. Über Jahrzehnte war die politische Landschaft geprägt von zwei Volksparteien und einem kleinen Zünglein an der Waage. Je nachdem, wohin sich die kleine liberale Partei neigte, wurde die Regierung gebildet. Mal konnten so die Christdemokraten, mal die Sozialdemokraten den Kanzler stellen. Und in besonderer Ausnahmelage, wenn Verfassungsänderungen unausweichlich wurden, bildete man eine Große Koalition – aber nur für kurze Zeit.

Soziologisch definierte Gruppen und ihr recht stabiles Einstellungsprofil – Arbeiter, Angestellte, Mittelständler, Unternehmer und so weiter – kennzeichneten das politisch-kulturelle Unterfutter der Republik. Stammwähler hielten in diesem System ihrer Partei über Jahrzehnte die Treue. Diese Epoche ist vorbei. Wir erleben eine Zäsur, die die derzeitige ratlose Hilflosigkeit der Traditionsparteien verständlich macht.

Was kennzeichnet diese neue Epoche?

Die soziologischen Wahlprofile sind abgelöst von Stimmungsmilieus. Diese Milieus sind viel fluider, viel instabiler, viel unkalkulierbarer. Entsprechend hilflos wirken die Parteistrategen, die in der alten Zeit – der nun untergegangenen Epoche – groß geworden sind, als sie noch von der „Alternativlosigkeit“ ihrer jeweiligen Position reden konnten. Soll man sich nun nach rechts oder nach links bewegen, mehr populistische Verkürzungen vornehmen oder mehr Emotion ins Spiel bringen? Solche Fragezeichen bestimmen die Tagesdebatten der nach Lösung suchenden Parteioberen. So greift man daneben. Das politisch-kulturelle Unterfutter entzieht sich inzwischen solchen alten Mustern.

Im traditionellen Parteiensystem wäre die Alternative für Deutschland (AfD) längst kollabiert. Der Gründer verließ die Partei. Er gründete eine konkurrierende Partei und erklärte bezüglich der AfD, er schäme sich dafür, ein solches Monster auf den Weg gebracht zu haben. Andere Prominente verließen mit ihm die Partei. Der Bundesvorstand will einen ganzen Landesverband auflösen – erst vergeblich, dann mit knapper Parteitagsmehrheit doch. Die Bundesvorsitzende trennt sich vom Pressesprecher, aber der Bundesvorstand hält zu ihm und beschäftigt ihn weiter. Kurzum: ein parteipolitisches Chaos. Die Zustimmung der potentiellen Wähler jedoch bleibt von diesem Durcheinander unberührt.

Was macht nun die neue Lage der Parteienrepublik aus?

Es handelt sich um ein Zusammentreffen von Strukturproblemen und Kulturproblemen. Die Strukturprobleme bestehen in Globalisierung, Internationalisierung, Europäisierung, Digitalisierung und dem damit verbundenen Machttransfer. Dieses Zeitalter der Komplexität findet keine Erklärer und Deuter. Es rutscht hinüber in das Zeitalter der Konfusion. Und „die da oben“ kümmern sich ja in der Wahrnehmung der Bürger sowieso nicht um die Basis, ihre Sorgen, Ängste, Frustrationen. Das so entstandene Stimmungsmilieu zeigt vor allem eine Profillinie: die Distanz zu allen traditionellen Parteien.

Der Verschleißprozess der Traditionsparteien, in unserem Nachbarland Österreich noch weiter fortgeschritten, setzt sich unvermindert von Tag zu Tag fort. Schließlich bietet die Regierungspolitik ein situatives Krisenmanagement, nicht aber eine strategische Problemlösungsperspektive. Solange die Politik diese Orientierungsleistung nicht erbringt, wird das Stimmungsmilieu bleiben, wie es ist: auf Distanz.

Der Autor des vorstehenden Essays, Prof. Werner Weidenfeld, ist Autor zahlreicher Bücher über die EU.

Soeben erschien die 14. Neuauflage des Buchs Europa von A bis Z – Taschenbuch der europäischen Integration, dessen Herausgeber er gemeinsam mit Wolfgang Wessels ist.

Nomos-Verlag, Baden-Baden 2016. 520 Seiten, 22 Euro.

www.nomos.de

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