2. Mai 2017
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Wer ist Extremist im Sinne des Grundgesetzes?

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Wer ist Extremist im Sinne des Grundgesetzes?

Die Demokratie leidet, wenn politische Strömungen oder Parteien als Extremisten abgestempelt werden, die keine sind | Von Dietrich Murswiek  

Gewaltanwendung ist ein Tabu in der freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Wer zur Durchsetzung seiner politischen Ziele Gewalt anwendet oder Gewaltanwendung propagiert, ist Verfassungsfeind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Gewalt gegen Personen oder „nur“ gegen Sachen richtet: Auch das Zerstören von Wahlplakaten einer politischen Partei ist eine extremistische Verhaltensweise (im Bild Beschädigung eines AfD-Plakats an der Jannowitzbrücke in Berlin). PICTURE ALLIANCE/DPA/KAY NIETFELD  
Gewaltanwendung ist ein Tabu in der freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Wer zur Durchsetzung seiner politischen Ziele Gewalt anwendet oder Gewaltanwendung propagiert, ist Verfassungsfeind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Gewalt gegen Personen oder „nur“ gegen Sachen richtet: Auch das Zerstören von Wahlplakaten einer politischen Partei ist eine extremistische Verhaltensweise (im Bild Beschädigung eines AfD-Plakats an der Jannowitzbrücke in Berlin). PICTURE ALLIANCE/DPA/KAY NIETFELD  
Demokratie lebt von der freien geistigen Auseinandersetzung. Dass sich im Wettbewerb der Meinungen immer das beste, das dem Gemeinwohl am meisten förderliche Argument durchsetzt, ist freilich eine Utopie. Aber die Möglichkeit freien Austauschs von Argumenten und die grundsätzliche Bereitschaft der Bürger, auf Argumente zu hören, gehören zu den Voraussetzungen von Demokratie. Anders ist ein freier Willensbildungsprozess, der vom Volke ausgeht und in Wahlen und Abstimmungen mündet, nicht möglich.

Dieser freie Willensbildungsprozess muss Grenzen haben, damit die Demokratie nicht selbstzerstörerisch wird. Seit der Neukonstituierung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als „wehrhafte Demokratie“ besteht weitgehender Konsens darüber, dass Extremisten, nämlich diejenigen, die die Demokratie zerstören wollen, vom demokratischen Diskurs ausgeschlossen werden können: durch Partei- oder Vereinsverbote etwa oder dadurch, dass man sie politisch ächtet, also nicht mit ihnen redet, sie beispielsweise von Podiumsdiskussionen ausschließt – und wenn man über sie redet, dann nur mit dem Etikett „extremistisch“ und nur negativ. Diese Ausgrenzungspolitik hat sich als recht wirksam erwiesen.

Extremisten haben in Deutschland bei Wahlen nur marginale und vorübergehende Erfolge erzielen können.

Was ein Erfolg für die Demokratie ist, kann jedoch leicht in sein Gegenteil umschlagen – nämlich dann, wenn auch solche politischen Strömungen oder Parteien als angebliche Extremisten bekämpft werden, die in Wirklichkeit keine sind. Der Begriff des Extremismus ist ein politischer Kampfbegriff. Er wird oft als Keule benutzt, mit der man auf andere eindrischt, um sie zu erledigen, ohne mit ihnen diskutieren zu müssen. Oder er wird strategisch eingesetzt, um unerwünschte Meinungen als indiskutabel auszugrenzen – so beispielsweise, wenn in einer politikwissenschaftlichen Untersuchung die Aussage „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ als „rechtsextremistische“ Einstellung gewertet wird.

Ein solcher Umgang mit dem Extremismus-Vorwurf ist dem Staat nicht erlaubt. Der Staat darf grundsätzlich nicht mit hoheitlichen Mitteln den politischen Willensbildungsprozess beeinflussen. Er darf insbesondere nicht die Chancengleichheit der politischen Parteien beeinträchtigen, indem er einige von ihnen bekämpft – es sei denn, die staatlichen Maßnahmen lassen sich verfassungsrechtlich rechtfertigen. Die Frage ist also: Unter welchen Voraussetzungen sind staatliche Maßnahmen zur Extremismusbekämpfung gerechtfertigt? Und unter welcher Voraussetzung ist die Ausgrenzung politischer Gegner – im Sinne der politischen Ächtung und Gesprächsverweigerung – durch politische Parteien und Gruppen der „Zivilgesellschaft“ mit den Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie vereinbar? Wer also ist „Extremist“ im Sinne des Grundgesetzes und wird deshalb zu Recht ausgegrenzt? Hier sind vor allem drei Problemkreise von Belang.

1. Angriff auf verfassungsschutzrechtliche Schutzgüter. Wer in diesem Sinne Extremist oder „Verfassungsfeind“ ist, muss zunächst im Hinblick auf die verfassungsschutzrechtlichen Schutzgüter bestimmt werden: Schutzgüter sind der Bestand – also die Existenz – der Bundesrepublik Deutschland sowie die freiheitliche demokratische Grundordnung. Extremisten attackieren diese Schutzgüter. In einem Urteil zur „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) von 1952 hat das Bundesverfassungsgericht die freiheitliche demokratische Grundordnung definiert als eine Ordnung, „die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

In seinem Anfang 2017 verkündeten Urteil zur „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) betont das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürdegarantie als „Ausgangspunkt“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und sieht das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip als unverzichtbare Elemente dieser Grundordnung an. Für die Demokratie sei die „Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk“ entscheidend. Zur Rechtsstaatlichkeit gehörten die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte sowie das Gewaltmonopol des Staates.

Bei der Extremismusbekämpfung geht es also um die Bewahrung der unerlässlichen Funktionsbedingungen einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung. Die politischen Freiheiten können durch Maßnahmen der Extremismusbekämpfung beschränkt werden, soweit – und nur soweit – ihre Ausübung sich darauf richtet, solche Elemente der Verfassungsordnung zu beseitigen, ohne die die Verfassung nicht mehr freiheitlich und demokratisch wäre, nämlich Menschenwürdegarantie, Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip. Extremist ist also, wer anstrebt, eines der notwendigen Elemente dieser Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen.

2. Gewaltbereitschaft. Extremistische Aktivitäten lassen sich nach den Mitteln, mit denen die politischen Ziele erreicht werden sollen, in zwei Gruppen einteilen: Extremisten können versuchen, ihre Ziele mit Gewaltanwendung oder gewaltfrei zu erreichen.

Über die erste Gruppe muss nicht viel gesagt werden. Bedroht wird die freiheitliche demokratische Grundordnung auf jeden Fall von denjenigen Kräften, die zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele – seien diese ideologisch oder auch religiös begründet – Gewalt anwenden wollen. Gewaltanwendung ist ein Tabu im freiheitlich-demokratischen Staat. Wer das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellt, stellt damit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung in Frage. Wer zur Durchsetzung seiner politischen Ziele Gewalt anwendet, Gewalt anzuwenden beabsichtigt oder Gewaltanwendung propagiert, ist somit Verfassungsfeind. Auf die Ziele, die er durchsetzen will – ob sie „gut“ oder „schlecht“, ob sie als solche mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar sind – kommt es nicht an.

Es kommt auch nicht darauf an, ob die Gewalt sich gegen Personen oder „nur“ gegen Sachen richtet. Auch das Zerstören von Wahlplakaten einer politischen Partei ist eine extremistische Verhaltensweise. Und was für die Gewaltanwendung gilt, gilt entsprechend für jede andere Form der Zwangsanwendung, insbesondere für die Drohung mit Gewaltanwendung. Demokratische Willensbildung setzt Freiheit und Freiwilligkeit voraus. Wer beispielsweise versucht, einen Parteitag oder eine Wahlkampfveranstaltung einer politischen Partei durch Blockade der Zugangswege zu verhindern, richtet sich damit gegen das Demokratieprinzip. Auch das ist extremistisch.

3. Verfassungsfeindliche Zielsetzungen.
Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird aber nicht nur durch gewaltbereite Extremisten bedroht, sondern auch – und damit kommen wir zur zweiten Gruppe – durch solche Kräfte, die ihre Ziele ohne Gewalt, also im Wege demokratischer Wahlen, durchsetzen wollen. Gewaltfrei vorgehende Gruppen sind dann verfassungsfeindlich, wenn ihre Ziele sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten.

Wer die Demokratie durch eine Diktatur ersetzen will, wer die Gewaltenteilung abschaffen oder das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit beseitigen will, verfolgt extremistische Ziele. Das gilt auch für Organisationen, die bestimmten Menschengruppen das Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde absprechen.

So abstrakt formuliert ist das völlig klar. Schwieriger ist es zu beurteilen, welche Zielvorstellungen oder Verhaltensweisen mit der Menschenwürdegarantie unvereinbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich beispielsweise eingehend mit der einwanderungspolitischen Programmatik der NPD befasst und entschieden, dass diese die Menschenwürde derjenigen Menschen missachte, die nicht der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ angehörten. Begründet wird dies folgendermaßen: Die NPD missachte die Subjektqualität des Einzelnen und verletze den Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit. Dies ergebe sich daraus, dass sie alle ethnisch Nichtdeutschen strikt ausschließen und weitgehend rechtlos stellen wolle.

Das entscheidende Kriterium ist insofern die Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Auch negative Pauschalurteile über bestimmte Menschengruppen – über die Flüchtlinge oder über die Muslime – werden von der Rechtsprechung als Missachtung der Menschenwürde gewertet. Aber Vorsicht: Wer auf Tatsachen gestützte statistische Befunde über Verhaltensweisen in bestimmten Gruppen mitteilt, äußert damit kein Pauschalurteil über sämtliche Mitglieder der betreffenden Gruppe.

Besonders große Gefahren für die freiheitliche und demokratische Ordnung in Deutschland und in anderen europäischen Staaten könnten vom Islamismus ausgehen, wenn dieser sich weiter ausbreitet. Die Einschätzung einer Organisation als extremistisch und Maßnahmen der Extremismusbekämpfung gegen diese Organisation werden nicht dadurch ausgeschlossen, dass es sich um eine religiöse Gemeinschaft handelt. Religionsgemeinschaften sind zwar nicht verpflichtet, die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Verfassung zu bejahen. Wenn sie jedoch aktiv auf die Überwindung dieser Ordnung hinwirken, gelten für sie dieselben Grundsätze, die für andere verfassungsfeindliche Organisationen gelten. Organisationen, die den demokratischen Staat durch einen islamischen Gottesstaat ersetzen wollen oder nach deren Auffassung die Scharia verbindliches Recht sein soll, das an die Stelle staatlichen Rechts tritt, sind verfassungsfeindlich.



Dem Beitrag unseres Autors Prof. Dietrich Murswiek liegt ein Vortrag zugrunde, den er am 18. März 2017 auf dem Extremismuskongress der AfD-Landtagsfraktionen in Berlin hielt.

Hinweise zu Veröffentlichungen und Vorträgen des Autors finden Sie auf seiner Website:

www.dietrich-murswiek.de

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