1. September 2016
Magazin

Wenn sich Integration als Illusion erweist

<div general-layout-selector="#html_structura_area_v2

DER HAUPTSTADTBRIEF

Wenn sich Integration als Illusion erweist

Politische Reflexe ersetzen den gesunden Menschenverstand, was nicht ins Weltbild passt, gibt es auch nicht – Wunschbilder beherrschen die Wirklichkeit | Von Max Thomas Mehr 

Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist die Bewunderung für den allmächtigen Führer oft stärker als das Bekenntnis zum Rechtsstaat. Im Bild die Pro-Erdogan-Demonstration in Köln am 31. Juli 2016. IMAGO/JOCHEN TACK
Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist die Bewunderung für den allmächtigen Führer oft stärker als das Bekenntnis zum Rechtsstaat. Im Bild die Pro-Erdogan-Demonstration in Köln am 31. Juli 2016. IMAGO/JOCHEN TACK
Paris, Nizza, München, Reutlingen, Würzburg, Ansbach, Rouen – die Anschläge sind da. Es werden weitere folgen. Dass etliche von ihnen einen islamistischen Hintergrund haben, ist offensichtlich. Dass Flüchtlinge daran beteiligt sind und nicht nur einheimische Amokläufer mit migrantischen Wurzeln, bestreitet nun niemand mehr. Dass es vor allem junge bis jugendliche Männer sind, auch nicht.

Allein im letzten Jahr sind mehr als 250 000 Personen, auf die diese Merkmale zutreffen, nach Deutschland eingewandert. Mit den Tätern wird sich in der Öffentlichkeit in erster Linie auseinandergesetzt, indem man ihre seelischen Abgründe auszuleuchten und Anzeichen für Hilfebedürftigkeit und Unzurechnungsfähigkeit offenzulegen versucht. Psychologen haben Hochkonjunktur, sie sollen erklären, was bei den Tätern „schiefgelaufen“ ist. Heerscharen von Sozialarbeitern, eine ganze Betreuungsindustrie nimmt sich präventiv der Zugewanderten an. Hat sie Aussicht auf Erfolg?

„Turbo-Radikalisierung“ lautet die neueste Diagnose für mordende Attentäter. Bis zur Tat sollen sie unauffällig gewesen sein – erst das Milieu der Notunterkünfte oder Flüchtlingsheime, erst das Leben in Banlieues oder „falsche Freunde“ in Moscheen hätten sie zu Tätern gemacht. Diese Diagnose impliziert den eigentlich schuldlosen Täter. Früher sprach man bei bis dahin unauffälligen Terroristen mit islamistischem Hintergrund von „Schläfern“. Damit waren Mörder gemeint, die ihre menschenverachtenden Pläne in kühl kalkulierter Absicht hinter einer harmlosen Maske versteckten. Heute nun scheint das Bild vom selbstverantwortlichen Täter aber nicht mehr passend – das Böse ist undenkbar oder findet im Kino statt, im deutschen Alltag sieht man den Täter lieber als Opfer. Und wer ist also schuld an der Gewalt? Natürlich wir, die Gesellschaft.

Was im aktuellen Deutungsmuster freilich keinen Platz findet, sind die Ratlosigkeit und der Zorn in der Bevölkerung – verbotene Gefühle, für die es im öffentlichen Diskurs keinen Platz zu geben scheint. Von ihnen nährt sich nicht zuletzt die Alternative für Deutschland (AfD). Die Politik der Mitte verweigert sich indessen drängenden Fragen wie: Helfen Integration und (noch) mehr Sozialarbeit wirklich gegen den Hass, der sich in die Köpfe frisst? Kann Deutschland so viele potentiell gewaltbereite Personen schadlos integrieren? Wollen wir das überhaupt? Oder wird der dumme Michel für dümmer, als er ist, verkauft, indem man an seine schlummernden Selbstzweifel und Schuldgefühle appelliert?

Wie wird ein Jahr des Terrors 2016 die Demokratie in Europa, in Deutschland verändern? Bereits jetzt ersetzen politische Reflexe die notwendige Reflexion. Auf der politischen Linken scheinen Diskussionsmuster und Lösungsansätze für politische Konflikte in einer Zeitschleife der 1970er-Jahre festzuhängen – moralischer Rigorismus gepaart mit sozialstaatlicher Betreuungskultur. Anhänger dieses Weltbildes glauben, jeder politische Konflikt gehe auf mangelnde Verteilungsgerechtigkeit zurück. Folglich soll auch die Integration von Flüchtlingen und Armutsmigranten durch einen Gesellschaftsvertrag des „Gebens und Nehmens“ klappen und damit dem Terror der Boden entzogen werden, denn der entstehe durch verweigerte Integration und Teilhabe. Doch das ist nichts weiter als ein Märchen – und dass es eines ist, weiß man spätestens seit dem 11. September 2001.

Zu Attentätern wurden damals Akademiker der Mittelschicht, Träger technischer Intelligenz mit besten Lebensperspektiven. Niemand hatte ihnen den Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe verweigert. Sie aber verweigerten sich dem westlichen Verständnis einer aufgeklärten und demokratischen Zivilgesellschaft. Deshalb hilft gegen den Terror von Paris, Nizza, München, Würzburg, Ansbach und Rouen kein „Kümmern“. Den Tätern geht es nicht um die Aufnahme in unsere Gesellschaft, sondern um deren Zerstörung. Und deshalb bleibt den westlichen Gesellschaften nichts anderes übrig, als die Migrationsströme durch Verträge bestmöglich einzudämmen und potenzielle Attentäter unter den Einwanderern durch Ausschöpfen aller dem Rechtsstaat zu Gebote stehenden Polizei- und Geheimdienstmaßnahmen bestmöglich präventiv zu erkennen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Auch der gestandene Kreuzberger mit Jahrzehnten der Multikulti-Erfahrung kann nur vage vermuten, was in den klischeebesetzten Begriffen und Vorstellungen tatsächlich steckt, die als die gängigen Integrationshindernisse etikettiert sind: Islamismus, traditionelle Herkunftskultur, vormoderne patriarchalische Verhältnisse – und wie viel tendenziell demokratiefeindliches Denken auch in vielen von jenen Einwanderern schlummert, die äußerlich als weitgehend integrierte deutsche Steuerzahler erscheinen. Wie aufgeladen die türkische Herkunftskultur mit antidemokratischem Denken ist, beweist die derzeitige Lage in der Türkei.

Seitdem der Despot vom Bosporus über 30 000 Lehrer aus den Schulen warf, Hochschulen, Zeitungen und Fernsehredaktionen schloss, Tausende Staatsbedienstete und Journalisten verhaften ließ und über 40 000 Türken durch den Entzug ihrer Pässe das Recht auf Selbstbestimmung nahm – seitdem habe ich mit vielen meiner türkischen Nachbarn ein großes Problem. „Mein“ Gemüsehändler, „mein“ Zeitungshändler – seit mehr als 40 Jahren machen wir Geschäfte miteinander und pflegen freundlichen Umgang. Bloß: Während ich mich frage, wann die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) endlich zu Demonstrationen mobilisieren wird gegen die Entlassung ihrer Lehrerkollegen in der Türkei, sagen meine Nachbarn: Besser noch mehr von ihnen verhaften, sind eh alles Verräter.

Während ich mich aufrege über die Verurteilung des Cumhuriyet-Chefredakteurs Can Dündar wegen seiner Aufdeckung türkischer Waffenlieferungen nach Syrien, die in meinen Augen eine investigative Glanzleistung ist, gilt er meinen Kreuzberger türkischen Nachbarn als Hochverräter – offenbar vor allem deshalb, weil Erdogan den Deal gedeckt hatte. Was deutsche Medien darüber berichten, ist „Lügenpresse“-Propaganda. Wahr ist nur, was türkische Medien sagen – kurz: Ungebremster „Erdowahn“ schlägt mir entgegen, eine unverhohlene Sehnsucht nach dem starken politischen Führer, die erschütternd ist. Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie? Gut und schön, aber untauglich für den politischen Ernstfall. Und dabei sind die meisten meiner Gesprächspartner schon in Berlin zur Schule gegangen.

Diese Erfahrungen führen dazu, dass auch mein persönliches politisches Koordinatensystem sich neu justiert. Warum soll ich, so frage ich mich, eigentlich für die Integration von Menschen sein, die unser Verständnis von Freiheitsrechten und Rechtsstaat, von Gewaltenteilung und richterlicher Unabhängigkeit, von der Trennung von Staat und Kirche, von Selbstbestimmung und Aufklärung erklärtermaßen für nicht erstrebenswert halten? Warum soll ich dafür sein, dass Verfechter des „Erdowahn“ unter Beibehaltung der türkischen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten können? Am liebsten würde ich jeden Einzelnen der Zigtausenden, die am 31. Juli 2016 in Köln pro Erdogan demonstrierten, fragen: Warum leben Sie eigentlich hier – und nicht in der Türkei?

Wir müssen – jeder für sich persönlich und alle, denen an Demokratie und Recht und Freiheit etwas liegt, gemeinsam – umdenken im Umgang mit dem, was einst als Hoffnung auf eine multikulturelle Gesellschaft begann und nun einer Situation der Anspannung und drohenden Überlastung gewichen ist. Wir müssen überdenken und gegebenenfalls neu aushandeln, wie und mit wem wir zusammenleben können – angesichts des drohenden Terrorismus ebenso wie angesichts dessen, dass auch das Alltagsleben in den Kiezen zu kriseln beginnt. Wird diese notwendige Klärung versäumt, werden nur die keinen Verlust an Lebensqualität zu beklagen haben, die nach dem Muster der AfD aus Krisen politisch Kapital schlagen.

Auch interessant