30. Juni 2016
Magazin

Wenn Politik an Selbsttäuschung scheitert 

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Wenn Politik an Selbsttäuschung scheitert 

Politische Illusionen platzen derzeit wie Seifenblasen, weil kluger Realismus von Wunschdenken verdrängt wird – ein Essay zum gleichnamigen Buch von Thilo Sarrazin | Von Andreas Rödder

Der Herbst der Selbsttäuschungen: Die einen meinten, alle ankommenden Syrer seien Ärzte oder Ingenieure, die den deutschen Fachkräftemangel beheben würden. Andere freuten sich auf neu ankommende „Menschengeschenke“ – bis die Illusionen platzten, als sich die tatsächlichen Qualifikationsprofile der Syrer abzeichneten. Im Bild begrüßen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (vorn links) und Kardinal Reinhard Marx (rechts hinten) am 5. September 2015 unregistriert eingereiste Migranten auf dem Münchener Hauptbahnhof. IMAGO/EPD
Der Herbst der Selbsttäuschungen: Die einen meinten, alle ankommenden Syrer seien Ärzte oder Ingenieure, die den deutschen Fachkräftemangel beheben würden. Andere freuten sich auf neu ankommende „Menschengeschenke“ – bis die Illusionen platzten, als sich die tatsächlichen Qualifikationsprofile der Syrer abzeichneten. Im Bild begrüßen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (vorn links) und Kardinal Reinhard Marx (rechts hinten) am 5. September 2015 unregistriert eingereiste Migranten auf dem Münchener Hauptbahnhof. IMAGO/EPD

Wer das Buch Wunschdenken von Thilo Sarrazin liest, wird nach wenigen Seiten merken, dass er es mit einem belesenen und klugen Autor zu tun hat. Mit einem leidenschaftlichen Bürger, dem das Gemeinwesen nicht gleichgültig ist und der dies mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein deutlich macht. Wer Wunschdenken liest, merkt ebenso, dass er es mit einem verletzten Autor zu tun hat. Auf der zweiten Textseite bereits sind wir bei Angela Merkel und im Jahr 2010 – als sie ihren Regierungssprecher Steffen Seibert erklären ließ, das Buch Deutschland schafft sich ab sei „nicht hilfreich“ und, so Sarrazin, „meine Entlassung aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank betrieb“. Nach seinem erzwungenen Ausscheiden im September 2010 habe er seine „bürgerliche Ehre nur mit Mühe retten“ können.

Thilo Sarrazin ist ein Enfant terrible der politischen Debatte – millionenfach verkauft und öffentlich angefeindet. Ausgegrenzt wurde er nicht im buchstäblichen Sinne; denn öffentlich sagen kann man in Deutschland fast alles. Auch über mangelnde Aufmerksamkeit kann Thilo Sarrazin nicht klagen. Die Ausgrenzung verläuft habituell: über herablassend hochgezogene Augenbrauen, sublime moralisierende Stigmatisierung, Rechtspopulismus-Stigmatisierung – „nicht hilfreich“ eben.

Nicht hilfreich ist es in Wahrheit, zu tabuisieren und auszugrenzen. Die Folge ist, dass die öffentliche Debatte unter einer zunehmenden Sprachlosigkeit der bürgergesellschaftlichen Mitte leidet. Wie recht hatte Ex-Bundespräsident Roman Herzog: „Streitige Debatten“ sind erste Bürgerpflicht! Also beginnt diese kritische Würdigung des neuen Buches von Thilo Sarrazin mit Kritik – und kommt dann zur Würdigung.

Der Herbst 2015 war paradigmatisch für deutsche Selbsttäuschungen – bis die Illusionen platzten.

Gleich zu Beginn des ersten Kapitels – „Weshalb einige Gesellschaften Erfolg haben und andere nicht“ – heißt es: „Wir wissen heute, dass nicht nur die menschliche Intelligenz, sondern auch alle anderen psychischen Eigenschaften erblich sind und fortlaufend durch die natürliche Selektion weiter geformt werden.“ Nun gibt es aber bekanntlich für alles und jedes eine wissenschaftliche Studie und Statistik – und ebenso für fast jedes Gegenteil. Deshalb müssen Aussagen wie „Wissenschaftler der Universität XY haben herausgefunden“ zunächst einmal skeptisch machen, ebenso Formeln wie „wir wissen heute“.

Zumal, wenn die Argumentation nicht klar ist: Geht es bei Genetik und Intelligenz um die individuelle Ebene oder um die kollektive? Und wie verhält sich „genetisch“ zu „ethnisch“? Da läuft eindeutig zu viel durcheinander, wenn von „Rassen, Ethnien und sozialen Gruppen“ die Rede ist. Natürlich ist es legitim, die Performance unterschiedlicher Gesellschaften zu vergleichen und festzustellen, dass zentrale Indikatoren von Wohlstand etwa in afrikanischen und arabischen Gesellschaften weit zurückliegen. Und natürlich ist es legitim festzustellen, dass muslimische Migranten in Europa aufs Ganze gesehen auf dem Arbeitsmarkt das Schlusslicht bilden. Aber kann man tatsächlich sagen, Kultur und Genetik seien nicht voneinander zu trennen, ohne in einen ethnischen Determinismus zu verfallen?

Hier serviert Sarrazin eine Melange aus Kultur, Genetik und Intelligenz, ethnischer Herkunft, Religion und „Entwicklungsstand einer Gesellschaft“. Seine Aussagen bleiben im Ungefähren, sie suggerieren und insinuieren. Diese Argumentation ist nicht seriös, und das ist schade, denn es lenkt von den eigentlichen Diskussionsgegenständen und den Diskussionsanstößen dieses Buches ab.

Die zentrale These findet sich auf Seite 193 des Buches, zu Beginn des Kapitels „Wie politische Fehler entstehen und was sie bewirken“: „Wesentliche Gründe für fehlerhaftes politisches Handeln resultieren durchweg aus Fremd- und Selbsttäuschung.“ Sarrazin unterscheidet dabei fünf Formen der Täuschung, die sich freilich kombinieren lassen: Täuschung aus Unwissenheit, aus Anmaßung, aus Bedenkenlosigkeit, Täuschung aus Egoismus und Täuschung aus Selbstbetrug.

Die Folge habituellen Ausgrenzens ist, dass die öffentliche Debatte unter zunehmender Sprachlosigkeit der Mitte leidet.

Beispiel Flüchtlingspolitik: Der Herbst 2015 war paradigmatisch für deutsche Selbsttäuschungen. Die einen meinten – Kategorie Unwissenheit und Selbstbetrug –, alle ankommenden Syrer, bevor sie überhaupt registriert worden waren, seien Ärzte oder Ingenieure, die den deutschen Fachkräftemangel beheben würden. Die Form der egoistischen Täuschung betrieben die Wirtschaftsverbände, die ihre Partikularinteressen gewohnheitsmäßig als Gemeinwohl ausgeben und, wenn es dann doch nicht passt, die Probleme gern dem Staat überantworten. Andere freuten sich auf die Veränderung der Gesellschaft durch neu ankommende „Menschengeschenke“ – bis die Illusionen platzten, als sich die tatsächlichen Qualifikationsprofile der Eingereisten abzeichneten und als sich nach der Silvesternacht von Köln andeutete, dass unregulierte Massenzuwanderung bisher nicht gekannte Probleme nach sich ziehen könnte.

Die deutsche Flüchtlingspolitik von heute, inzwischen mit deutlichem Abstand von der Euphorie des Herbstes 2015, kommt nicht an der unbequemen Einsicht vorbei, dass, wie Sarrazin schreibt, „ein Asylrecht, welches dem Grunde nach 80 Prozent der Menschen in der Welt in Europa Asyl gewährt, den Untergang Europas, so wie wir es kennen, riskiert“. Ich bin kein Freund von Untergangsrhetorik. In der Sache aber ist der Befund nicht zu bestreiten.

Darüber hinaus hat die Flüchtlingskrise zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre offen demonstriert, dass die Institutionen des vereinten Europa von Maastricht nicht funktionieren: 2010 die No-Bailout-Klausel und das Verbot monetärer Staatsfinanzierung, nun 2015 das Schengen-Übereinkommen und die Dublin-Verordnung. Und wieder stellt sich heraus, dass die wirtschaftlichen ebenso wie die politisch-kulturellen Differenzen innerhalb der EU von Anfang an massiv unterschätzt wurden – aus Wunschdenken. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Oder, um es mit Sarrazin zu sagen: Das Sollen wurde auf Kosten des Seins umgesetzt.

Sarrazin ist kein Freund von Utopien. In der Tat: Eine Idee wird immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das gilt für die großen, fatalen Ideologien – von der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus über die rassereine Gesellschaft des Nationalsozialismus bis zum Gottesstaat der Islamisten. Es gilt aber auch für die Idee einer „immer engeren Union der Völker Europas“, es gilt für eine überregulierte Gleichstellungspolitik, für eine moralisch überhöhte, ideologisch überzogene Diversität ebenso wie für die Idee von der globalen Zivilgesellschaft ohne Nationalstaaten und Grenzen.

Sarrazin belegt mit vielen Beispielen, wie Politik am Wunschdenken, an Fremd- und Selbsttäuschung scheitert. Wie aber kann sie sich davon freimachen und gelingen? Die Bedingung gelingender Politik liegt, so einer der stärksten Gedanken in Wunschdenken, im Ineinandergreifen von belastbaren Institutionen und politischer Kultur. Politische Entscheidungen müssen im Einklang mit institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen stehen. Das aber lässt sich nicht abstrakt und technokratisch verordnen. Denn was hier richtig ist, kann dort falsch sein.

Das heißt: Es gibt keine Patentrezepte – und auch Sarrazin hat sie nicht. Nötig ist kluger Realismus statt utopischen Wunschdenkens. Das ist freilich kein Freibrief für Beliebigkeit, vielmehr legt Sarrazin unter Rückgriff auf den Ideenhaushalt abendländischer politischer Theorien normative Leitlinien politischen Handelns an: das individuelle Wohlergehen in einer politischen Einheit, verbunden mit einem Maximum an Stabilität und einem Optimum an Freiheit und Offenheit. Das erfordert einen permanenten Balanceakt und permanente Abwägungs- und Aushandlungsprozesse. Es wäre zu wünschen, Thilo Sarrazins grundsätzliche Überlegungen über gelingende Politik würden in der Öffentlichkeit ähnlich breit zur Kenntnis genommen wie jene, die sich als „Abrechnung“ vermarkten lassen.

Dieser Essay unseres Autors Prof. Andreas Rödder basiert auf seinem Vortrag, den er anlässlich der Buchvorstellung von Wunschdenken am 25. April 2016 in Berlin hielt.

Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert. Von Thilo Sarrazin.

DVA Verlag, München 2016. 570 Seiten, gebunden 24,99 Euro, als eBook 19,99 Euro.

www.dva.de

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