1. November 2016
Magazin

Der Bedeutungsverlust der Traditionsparteien nimmt weiter zu

<div general-layout-selector="#html_structura_area_v2

DER HAUPTSTADTBRIEF

Der Bedeutungsverlust der Traditionsparteien nimmt weiter zu

Wahlsieger ist heute schon, wer die 20-Prozent-Marke erreicht. Wir erleben eine Orientierungskrise von besorgniserregender Dimension | Von Werner Weidenfeld 

Volkspartei sieht anders aus: Die Politiker der abgewählten Großen Koalition haben bei der Berlin-Wahl am 18. September 2016 noch 21,6 Prozent der abgegebenen Stimmen für die SPD und 17,6 Prozent für die CDU geholt. In Beziehung gesetzt zu den Wahlberechtigten stimmten 14,5 Prozent der Wahlberechtigten für die SPD und 11,8 Prozent für die CDU.
Volkspartei sieht anders aus: Die Politiker der abgewählten Großen Koalition haben bei der Berlin-Wahl am 18. September 2016 noch 21,6 Prozent der abgegebenen Stimmen für die SPD und 17,6 Prozent für die CDU geholt. In Beziehung gesetzt zu den Wahlberechtigten stimmten 14,5 Prozent der Wahlberechtigten für die SPD und 11,8 Prozent für die CDU.
Die Geschichte der deutschen Demokratie bietet immer wieder Phasen, die zu tiefer Nachdenklichkeit Anlass geben. Auf derlei Herausforderungen der politischen Kultur ist die erste Reaktion meist eine Neigung zur Banalisierung. Die Hektik und Sprunghaftigkeit medialer Oberflächlichkeit bestimmen zunächst das Bild. Wie ernst der Hintergrund ist, wird oft erst spät entdeckt und manchmal erst sehr spät. Ein aktuelles Beispiel für dieses Phänomen bietet die Entwicklung der deutschen Parteienlandschaft.

Wahlabende folgen seit längerem der gleichen Routine: Die Traditionsparteien erleben deutliche Stimmenverluste. Eine neue Partei verbucht Stimmengewinne. In den Medien wird sogleich nach einem Grund gefahndet, warum man eine Traditionspartei – trotz aller Stimmverluste – als Sieger ausrufen könnte. So gelang es bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern vom 4. September 2016, die SPD – ihrem schlechten Abschneiden zum Trotz – als Sieger zu feiern. Denn es sollte ja möglichst wenig Sendezeit und Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Sieger, die Alternative für Deutschland (AfD), verwendet werden. Das mündete über den Wahlabend hinaus in eine tiefe Ratlosigkeit, wie denn nun mit der AfD umzugehen sei.

Dabei war das Szenario von Mecklenburg-Vorpommern durchaus nicht neu und unterschied sich nur in Nuancen von denen der vorausgegangenen Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Und nun also eine Neuauflage des bekannten Musters nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin vom 18. September 2016. Immer ist die AfD die eigentliche Siegerin – eine Partei, die in einer früheren, von weniger Hektik und Orientierungslosigkeit geprägten Phase bundesrepublikanischer Parteiengeschichte infolge ihres geradezu unüberbietbaren internen Konfliktchaos vermutlich längst von alleine wieder verschwunden wäre. Nun aber sammeln sich um sie die Enttäuschungen, Frustrationen und Ängste im Deutschland von 2016.

Die Stadt geht stets dem Land voran: In Berlin, Deutschlands Zukunftslabor, vertreten die beiden einstigen Volksparteien CDU und SPD seit der Abgeordnetenhauswahl vom 18. September 2016 noch 27 Prozent der Wahlberechtigten, die vier kleineren Parlamentsparteien repräsentieren 35 Prozent der Wahlberechtigten. Eine Mittelgruppe von 33 Prozent der Wahlberechtigten hat keine ständige Vertretung: die Nichtwähler.
Die Stadt geht stets dem Land voran: In Berlin, Deutschlands Zukunftslabor, vertreten die beiden einstigen Volksparteien CDU und SPD seit der Abgeordnetenhauswahl vom 18. September 2016 noch 27 Prozent der Wahlberechtigten, die vier kleineren Parlamentsparteien repräsentieren 35 Prozent der Wahlberechtigten. Eine Mittelgruppe von 33 Prozent der Wahlberechtigten hat keine ständige Vertretung: die Nichtwähler.
Die Traditionsparteien haben keine dauerhafte politische Heimat mehr zu bieten. Weder Arbeiter und Angestellte noch Unternehmer, weder Junge noch Alte, weder Mittelständler noch Gewerkschafter, weder Arme noch Wohlhabende verorten sich noch stabil in der Parteienlandschaft. Die traditionellen Bindungen sind längst erodiert – wir leben in einer Gesellschaft von hoher Fluidität. Vertrauen über den Tag hinaus darauf, dass die gewählte Partei sich daranmachen wird, die angestrebten Ziele zu erreichen, ist Misstrauen gewichen. Wenn eine Partei heute eine bestimmte Lösung für ein Problem vorschlägt, wird sie sich dann auch zuverlässig mit der Realisierung befassen? Oder taumelt sie – angetrieben von der medialen Rastlosigkeit – vorher weiter zu anderen, schlagzeilenträchtigen Themen?

Ist die Politik nicht eigentlich nur noch an sich selbst interessiert – weit entrückt vom alltäglichen Sorgenhorizont? Die Bürger gehen auf Distanz zu einem politischen Betrieb, bei dem sich diese Frage aufdrängt. Wir leben in einer Zeit der Entfremdung, in der jegliche Gewissheit morgen schon durch eine andere abgelöst sein kann. Und was hört man zu diesem fundamental wichtigen Thema von den Traditionsparteien? Die Antwort ist – lautstarkes Schweigen.

Das Elend der Traditionsparteien besteht im Fehlen jeglicher notwendigen Orientierungsleistung. Statt Orientierung anzubieten in einer Zeit, die so sehr von Komplexität und von Konfusion geprägt ist, erschöpft sich ihr Wirken in situativem Krisenmanagement. Die Bürger und Wähler müssen ohne die Orientierungsstrategien auskommen, die frühere Epochen deutscher Politik geprägt haben – von der entschlossenen Westbindung und dem Ja zur sozialen Marktwirtschaft Konrad Adenauers über das Demokratie wagen und die Entspannungspolitik Willy Brandts und Helmut Kohls Gesellschaft mit menschlichem Gesicht bis zu Gerhard Schröders Agenda 2010. Die Deutschen konnten sich sowohl im Pro wie im Kontra zu dieser Politik zuverlässig verorten. Heute sind an die Stelle dieser Politikbindung Politikverdrossenheit und ein verbreitetes Gefühl der Ohnmacht und der diffusen Angst getreten.

Der Abstieg der Traditionsparteien ist nur zu bremsen, wenn sie wieder die Kraft zu einer strategischen Orientierungsleistung mit Bindungspotential finden. Lassen sie die Dinge aber so weiterdümpeln wie in den letzten Jahren, dann wird sich die Strategiekrise einer wankenden Republik auf fatale Weise in eine umfassendere Sinnkrise des politischen Lebens und der Demokratie insgesamt entwickeln. Nur eine neue politische Orientierungsgewissheit kann das verhindern. Es ist noch nicht zu spät dafür.

Der Autor des vorstehenden Essays, Prof. Werner Weidenfeld, ist Autor zahlreicher EU-Bücher. Im Frühjahr 2016 erschien die 14. Neuauflage von Europa von A bis Z – Taschenbuch der europäischen Integration, dessen Herausgeber er gemeinsam mit Wolfgang Wessels ist.

Nomos-Verlag, Baden-Baden 2016. 520 Seiten, 22 Euro.

www.nomos-shop.de

Auch interessant