1. September 2016
Magazin

Das Grundgesetz gilt auch für Töchter aus Migrantenfamilien

<div general-layout-selector="#html_structura_area_v2

DER HAUPTSTADTBRIEF

Das Grundgesetz gilt auch für Töchter aus Migrantenfamilien

Statistisch gesehen wird täglich mindestens ein Berliner Mädchen zwangsverheiratet. In anderen deutschen Großstädten sieht es ähnlich aus. In den großen Ferien gewinnt das traurige Thema zusätzliche Brisanz | Von Franziska Giffey

Wenn es Sommer wird in Deutschland, wird es für manche Mädchen mit Migrationshintergrund kritisch: Als Schulmädchen reisen sie in die großen Ferien, als Ehefrauen kehren sie zurück. Seit 2003 engagiert sich Terre des Femmes gegen Zwangsheirat und Frühehen. IMAGO/UWE STEINERT
Wenn es Sommer wird in Deutschland, wird es für manche Mädchen mit Migrationshintergrund kritisch: Als Schulmädchen reisen sie in die großen Ferien, als Ehefrauen kehren sie zurück. Seit 2003 engagiert sich Terre des Femmes gegen Zwangsheirat und Frühehen. IMAGO/UWE STEINERT

Es ist Sommer in Deutschland – und es sind Sommerferien. Aber was für viele eine unbeschwerte und erholsame Ferienzeit ist, bedeutet für einige den Beginn eines Albtraums: Sie werden gegen ihren Willen im Herkunftsland ihrer Eltern zwangsverheiratet.

Auch in diesem Jahr habe ich zum Ende des Schuljahres wieder gemeinsam mit dem Neuköllner Schulstadtrat und der Neuköllner Gleichstellungsbeauftragten einen Brief an jede unserer sechzig Schulen im Bezirk geschrieben. Sein Wortlaut:

„Sehr geehrte Schulleitungen, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, auch im Namen der AG Mädchenarbeit in Neukölln und in Kooperation mit der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES möchten wir auf die Problematik Zwangsverheiratung während der Sommerferien hinweisen. Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung, die es mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen gilt. Zahlreiche Hilfsangebote für von Zwangsheirat betroffene oder bedrohte junge Frauen und Männer existieren bereits. Informationen dazu erreichen die Opfer leider vielfach zu spät oder gar nicht. Gerade an diesem Punkt kann Schule eine wichtige Funktion erfüllen. Aufmerksame und sensibilisierte Lehrerinnen und Lehrer können möglicherweise erste Anzeichen für eine drohende Zwangsheirat frühzeitig erkennen und den Schülerinnen und Schülern adäquate Hilfe anbieten.“

Wir informieren gezielt über das Thema und fordern Lehrer und Sozialarbeiter dazu auf, tätig zu werden. Wir weisen auf Beratungsstellen und Hilfsangebote hin und geben konkrete Handlungshinweise:

„Falls die oder der potentiell Betroffene trotz der Gefahr unbedingt reisen möchte: Er/sie sollte Bargeld, Kopien des Passes und des Rückflugtickets sowie ein Handy und Adressen der deutschen Botschaft versteckt bei sich führen und alle Kopien bei einer Vertrauensperson in Berlin hinterlassen. Vor der Abreise sollten möglichst die genaue Zieladresse sowie eine eidesstattliche Erklärung hinterlegt werden, dass die betroffene Person auf jeden Fall nach Deutschland zurückkommen möchte und dass sie Angst hat, zwangsverheiratet zu werden.“

Mich erschüttert es immer wieder, dass es im 21. Jahrhundert in der deutschen Hauptstadt Berlin notwendig ist, einen solchen Brief zu schreiben – dass es Mädchen (aber auch Jungen) unter uns gibt, für die ein selbstbestimmtes Leben alles andere als selbstverständlich und deren Kindeswohl akut gefährdet ist. Dabei sind die meisten der Betroffenen in Deutschland aufgewachsen. In den Fällen, die wir kennen, handelt es sich um patriarchalisch organisierte Familienstrukturen. Die Familie hat bestimmte Erwartungen an ihre Töchter und Söhne, die ihre eigenen Wünsche und Ziele dem unterzuordnen haben. Vater und Mutter, so die Begründung, wüssten am besten, was gut für ihre Kinder sei. Es sei ihre Aufgabe, ihre Töchter vor schlechten Einflüssen zu schützen und durch eine arrangierte Ehe die Familienehre zu sichern. Ein „Nein“, so die Eltern, werde Schande über die Familie bringen.

Mein Herz gehört mir – und es kann auch gebrochen werden, wenn eine aus freien Stücken eingegangene Liebe nicht so verläuft, wie erhofft. Bei einer Zwangsehe wird mit dem Herzen die Persönlichkeit gebrochen, das Ich entwendet. TERRE DES FEMMES
Mein Herz gehört mir – und es kann auch gebrochen werden, wenn eine aus freien Stücken eingegangene Liebe nicht so verläuft, wie erhofft. Bei einer Zwangsehe wird mit dem Herzen die Persönlichkeit gebrochen, das Ich entwendet. TERRE DES FEMMES
Eine der größten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema ist, dass so wenig Material zu den tatsächlichen Fallzahlen vorliegt. Die erste und bisher einzige bundesweite Studie zum Thema Zwangsverheiratung in Deutschland wurde 2011 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht. Bundesweit waren dafür 1445 Beratungseinrichtungen zu ihren Erfahrungen mit Zwangsverheiratungsfällen befragt worden. 830 dieser Einrichtungen hatten geantwortet und für das Jahr 2008 insgesamt 3443 Fälle von angedrohter oder vollzogener Zwangsverheiratung benannt, wobei auf mögliche Mehrfachnennungen hingewiesen wurde. 92 Prozent der Betroffenen waren Mädchen und Frauen, 40 Prozent im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Fast alle hatten einen Migrationshintergrund, knapp die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit.

In Berlin gab es zuletzt für das Jahr 2013 eine Befragung zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen, die vom Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung in Zusammenarbeit mit der Senatsfrauenverwaltung und der Friedrichshain-Kreuzberger Gleichstellungsbeauftragten durchgeführt wurde. 460 Fälle von drohender oder erfolgter Zwangsverheiratung wurden erfasst, 94 Prozent der Betroffenen waren weiblich. Die Altersgruppe der 18- bis 21-Jährigen war mit 38 Prozent am stärksten vertreten, gefolgt von den 16- und 17-Jährigen mit 20 Prozent. 16 Prozent waren 22 bis 25 Jahre alt. Erschreckend ist, dass selbst in der Gruppe der 10- bis 12-Jährigen vier Fälle von sowohl drohender als auch vollzogener Zwangsverheiratung bekannt wurden. Die meisten Betroffenen haben ihre Wurzeln in der Türkei oder in arabischen Ländern, aber auch in Südosteuropa, Asien und Afrika.

In Berlin arbeiten wir bezirksübergreifend mit einer geschätzten Zahl von zirka 400 Fällen pro Jahr, die bekannt werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Dunkelziffer erheblich höher, weil viele Betroffene aus Angst vor gewaltbereiten Familienmitgliedern oder dem Druck in der Familie nicht in die Öffentlichkeit gehen und sich dem Schicksal der arrangierten Ehe fügen.

Zwangsverheiratung ist eine Form von häuslicher und oft auch sexualisierter Gewalt, die gegen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, gegen zahlreiche Konventionen, Erklärungen und Gesetze verstößt – und keine kulturell bedingte Tradition, die zu tolerieren ist. Jedem „Bei uns ist das eben so“ ist entschieden entgegenzutreten, und erst recht jedem „Bei denen ist das eben so“. 2011 ist das „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften“ in Deutschland in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wird Zwangsverheiratung in Paragraf 237 des Strafgesetzbuches als eigenständiger Straftatbestand normiert. Das Strafmaß liegt bei sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe.

Betrachtet man den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema, wird deutlich, dass die Ursachen des Problems häufig umschifft werden. Die tägliche Arbeit all derer, die sich um die Opfer kümmern, zielt verständlicherweise in erster Linie darauf, den Betroffenen Beratung, Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Es wird Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit geleistet, auch um Lehrkräfte, Polizisten und Sozialarbeiter zu sensibilisieren. Es wird dafür gestritten, besser finanziell abgesicherte und ausgebaute Hilfsangebote unterbreiten zu können. Es wird gefordert, mehr Zufluchtswohnungen für diejenigen einzurichten, die aufgrund ihres „Neins“ so gefährdet sind, dass sie nicht mehr zu Hause leben können. Dazu gehören auch Homosexuelle und Paare, die gegen den Willen ihrer Familie zusammen und deshalb von Gewalt im Namen der Ehre bedroht sind. Es braucht eine enge Zusammenarbeit der Behörden und der Schulen mit der Polizei – vor allem, wenn es darum geht, in Fällen von Gefahr für Leib und Leben Anonymität und Schutz zu gewährleisten.

Hinzu kommt die Forderung nach strengeren rechtlichen Rahmenbedingungen, die aus meiner Sicht absolut zu unterstützen ist: Kinderehen sind nicht zu tolerieren, sie müssen verboten werden. Das Mindestheiratsalter in Deutschland muss ausnahmslos auf 18 Jahre festgelegt sein. Im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen dürfen in Deutschland nicht anerkannt werden. Auch der Zwang zum Eingehen einer eheähnlichen Verbindung – also einer religiösen Eheschließung – muss wie die Zwangsheirat unter Strafe gestellt werden. Durch das neue Personenstandsgesetz, das 2009 in Kraft trat, ist ein Verbot der religiösen Voraustrauung nicht mehr vorgesehen. Dies begünstigt sowohl Zwangs- und Mehrfachehen wie auch Kinderehen. Die Forderung, religiöse Eheschließungen wie zuvor nur nach standesamtlicher Eheschließung zu gestatten, ist richtig und wichtig.

Im Neuköllner Rollbergviertel gibt es das geflügelte Wort: „Hier sucht sich kein Mädchen ihren Mann alleine aus.“ Dort gibt es Brautgelder, es gibt Absprachen auf dem Heiratsmarkt und es gibt Mädchen, die von klein auf darauf vorbereitet werden, dass die Familie für sie entscheiden wird. Manchmal hat sie dann die Wahl zwischen drei Cousins – aber mit Freiheit hat auch das nichts zu tun. Die Kernfrage dabei, wie diese jungen Menschen, die nicht selbstbestimmt ihren Weg gehen dürfen, zu unterstützten sind, lautet: Wie können wir den Ursachen begegnen, wie kann ein Umdenken in den Familienstrukturen erreicht werden? Das ist die schwierigste Aufgabe, denn die tradierten Denk- und Rollenmuster sind oft derart verfestigt, dass es in vielen Fällen nahezu unmöglich erscheint, sie aufzubrechen.

Ich bin der Überzeugung, dass dies nur gelingen kann, wenn wir Autoritätspersonen aus dem direkten Umfeld der beteiligten Familien gewinnen. Wenn Menschen, deren Wort in den entsprechenden sozialen und religiösen Kreisen etwas gilt, sich gegen Zwangsheirat und arrangierte Ehen einsetzen, wirkt das als ein wichtiges und starkes Signal. Das bedeutet, dass ein Weg auch sein kann, die Imame in den Moscheen einzubinden, die ein hohes Maß an Autorität besitzen. Dass dieser Weg einen langen Atem braucht, habe ich selbst im letzten Jahr erfahren. Auf meine Einladung an alle 21 Neuköllner Moscheen, sich an einer Kampagne des Bezirks gegen Zwangsheirat und für die freie Partnerwahl zu beteiligen, habe ich nur sieben Rückmeldungen erhalten. Allein das zeigt schon, wie wenig Bereitschaft es gibt, sich mit diesem schwierigen Thema auseinanderzusetzen und daran etwas zu ändern. Ich habe daraufhin beschlossen, die Moscheen zu besuchen und direkt ins Gespräch darüber zu gehen.

Wir dürfen uns aber nicht entmutigen lassen. All denjenigen, die sagen, dass das aussichtslos wäre, müssen wir entgegenhalten, dass es auch in Deutschland Zeiten gab, in denen Frauen weder das Wahlrecht hatten, noch das Recht, ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes eine Arbeit aufzunehmen und dass Vergewaltigung in der Ehe erst Ende der 1990er-Jahre unter Strafe gestellt wurde. Es ist möglich, dass sich etwas ändert, aber nur Schritt für Schritt.

Dafür ist es erforderlich, mit Hartnäckigkeit immer und immer wieder dieses Thema anzusprechen – auch und vor allem dort, wo unsere „Einmischung“ nicht auf Gegenliebe stößt. Wir müssen die Familien und auch die Institutionen direkt in die Pflicht nehmen, sie nicht einfach sich selbst überlassen – sie müssen merken, dass es so nicht geht. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die Rechte, die im deutschen Grundgesetz verankert sind, für alle gelten, die in Deutschland leben. Geltendes Recht muss geändert und für alle konsequent durchgesetzt werden: erst Standesamt, dann religiöse Trauung. Die religiöse Voraustrauung muss unter Strafe gestellt werden. Zwangsheirat ist nicht kulturbedingt zu tolerieren, sie ist als moderne Form der Sklaverei zu ächten.

Das „Jugendportal Zwangsheirat“ von Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e.V. spricht Betroffene direkt an und informiert über Rechte und Hilfsangebote unter

www.zwangsheirat.de

Auch interessant